Zum Jahresende ein kurzes Resümee vom Balkan, Europas vielbeschworenem Sorgenkind. Eine der beliebtesten Metaphern von uns Journalisten war im Jahr 2007 das „Pulverfass Kosovo“. Wann „explodiert“ es? Kommt der „nächste „Balkankrieg“? Platz zwei unter den Top-Klischees: das „zerstrittene Europa“, auch genannt „zaudernde EU“ oder „europäischer Hühnerhaufen“. Knapp abgeschlagen auf Platz drei: Das Kosovo als „Ministaat der Mafiaclans“.
Fangen wir von hinten an: das ewige, Unheil kündende Geschrei vom Kosovo als Oase der kriminellen Großfamilie nervt, um es einmal salopp auszudrücken. Ja, es gibt im Kosovo organisierte Kriminalität und Korruption, und die Kosovaren selbst sind die Ersten, denen deswegen der Kragen platzt. Aber diese Probleme sind kein naturgesetzlicher Zustand, sondern klassisches Phänomen einer Nachkriegsgesellschaft. Soll heißen, man kann sie bekämpfen.
Was den „Familienclan“ betrifft, der unter der Fuchtel eines finster dreinblickenden Patriarchen steht: Clans und Patriarchen sind, wie so vieles in einer Nachkriegsgesellschaft, auch nicht mehr das, was sie mal waren. Sie sind konfrontiert mit einer städtischen jungen Generation, deren Frauen traditionelle Strukturen in Frage stellen; mit einer Diaspora, die aus dem europäischen Ausland andere Lebensvorstellungen nach Hause bringen.
Kommen wir zum Klischee vom zaudernden, unfähigen Europa, dass sich auf dem Balkan immer wieder blamiert habe: Die EU hat sich während des blutigen Zerfalls Jugoslawiens wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. Aber inzwischen hat man in Brüssel gelernt. Die Taktik Russlands, durch seine Blockade-Haltung in der Kosovo-Frage die EU zu spalten, hat offenbar das Gegenteil bewirkt. Es gibt zwar nach wie vor erklärte Gegner einer einseitigen Unabhängigkeit des Kosovo – vor allem sind das die Slowakei, Rumänien und Zypern – doch werden diese Länder nicht die geplante Mission blockieren, mit der die EU das UN-Protektorat ablösen und den Weg des Kosovo in die volle Unabhängigkeit „überwachen“ wird. 1:0 für Brüssel lautet das Zwischenergebnis in diesem Dauerclinch mit Moskau.
Und weil wir gerade bei den guten Nachrichten sind: sechs Jahre nach Ende der Balkan-Kriege haben alle Nachfolgeländer des ehemaligen Jugoslawiens ein Stabilisierungs-und Assoziierungsabkommen mit der EU unterschrieben oder ausgehandelt. Mag ja sein, dass das nicht hübsch anzusehen ist: in Serbien drohen weiterhin nationalistische Rückfälle. Bosnien ist immer noch mehr multiethnischer Boxring denn funktionierender Staat. In Kroatien steht eine ehrliche Auseinandersetzung mit den eigenen Kriegsverbrechern noch aus (wie überhaupt in allen Ländern des ehemaligen Jugoslawien). Aber wer hätte Mitte der neunziger Jahre geglaubt, dass aus dem Trümmerhaufen der Jugoslawienkriege ein europäischer Erweiterungsprozess würde?
Womit man beim „Pulverfass Balkan“ angelangt wäre: das „Pulverfass“ gehört in den Papierkorb. Die Behauptung, auf die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo folge der nächste Krieg, war und ist Panikmache. Weder Pristina noch Belgrad haben das Interesse oder die Ressourcen für einen neuen militärischen Konflikt – nicht zuletzt, weil sowohl Kosovaren wie Serben auf die europäische Perspektive hoffen.
Die Rhetorik mancher serbischer Politiker hört sich zweifellos anders an. Der amtierende Premierminister Kostunica droht gern damit, sein Land an Moskau anzubinden, falls ihm Europa und die USA das Kosovo „rauben“. Aber die Drohung wirkt leer, wenn man sieht, was Russland bislang bietet: viel Beschwörung der slawischen Bruderschaft und ein paar Wirtschaftsdeals im Energiesektor. Da leuchtet Brüssel doch etwas heller.
Nicht, dass damit alle Sorgen in der Region beseitigt wären. Für das serbisch dominierte Nordkosovo, das sich einer Unabhängigkeit widersetzen wird, muss eine Lösung gefunden werden. Im Gespräch ist derzeit eine neue Mini-UN-Verwaltung. In Serbien ist es, wie gesagt, denkbar, dass aus radikaler Kränkung über den Verlust des Kosovo (genauer gesagt: des damit verbundenen Mythos) der Kandidat der „Radikalen Partei“ im Januar zum Präsidenten gewählt wird. Ganz zu schweigen von den unzähligen Alltagsproblemen des Balkan wie Arbeitslosigkeit und marode Infrastruktur.
Aber für den Moment sieht es sehr viel besser aus, als noch vor wenigen Jahren zu erwarten war. Mit den verbleibenden Problemen und Krisen beschäftigen wir uns dann im nächsten Jahr.