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Gadhafi und der lange Weg nach Den Haag

 

Womöglich hatte er ja eine Vorahnung gehabt, damals im Frühjahr 2006. „Das ist ein ernster Präzedenzfall“, warnte Muammar al-Gadhafi. „Jeden afrikanischen Staatschef könnte ein ähnliches Schicksal ereilen.“ Im Fernsehen hatte Gadhafi gesehen, wie sein ehemaliger Amtskollege und Kriegspartner, Liberias Ex-Präsident Charles Taylor, in Handschellen einem internationalen Sondertribunal überstellt wurde.

Jetzt, fünf Jahre später, kreuzen sich die (Verfahrens-)Wege der beiden wieder, und zwar in Den Haag. Am Montag hat dort Luis Moreno-Ocampo, Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGh), Haftbefehle gegen Gadhafi, seinen Sohn Saif al-Islam und seinen Geheimdienstchef Abdullah al-Sanousi beantragt. Wegen Verdachts auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen durch libysche Sicherheitskräfte, die Proteste gegen das Regime niederschlagen sollten.

Charles Taylor dürfte dieses Ereignis wenige Kilometer entfernt in seiner Zelle in Den Haag verfolgt haben, wo der Liberianer auf das Urteil in seinem Prozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen wartet, begangen durch Rebellen, die er während des Bürgerkriegs im Nachbarland Sierra Leone unterstützt haben soll.
Mit Gadhafis tatkräftiger Hilfe.

Zusammen hatten die beiden die „Revolutionary United Front“ (RUF) mit Waffen, Geld und Munition versorgt, jene Rebellen, die in Sierra Leone als Terrortruppe gegen die eigene Bevölkerung Furore machten – spezialisiert auf die Ausbeutung der Diamantenfelder und das Abhacken von Händen bei „Strafaktionen“. Anführer der RUF hatten seinerzeit Gadhafis internationales Ausbildungslager für Befreiungskämpfer und Terroristen (die Trennlinie ist bekanntlich schwammig) in der libyschen Wüste durchlaufen.

Und nun? Endet der Libyer jetzt doch noch neben Taylor im Haager Untersuchungsgefängnis, wo die Häftlinge mehrerer internationaler Gerichte untergebracht sind?
Die Vorstellung ist verlockend, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich.

Ein paar prozedurale Formalitäten vorweg: Ob der IStGh tatsächlich Haftbefehle gegen Gadhafi und Co. erlässt, entscheidet nicht der Ankläger, sondern ein Richtergremium. Dieses wird in einigen Monaten vermutlich Ocampos Antrag stattgeben. Beweismaterial für Gräueltaten von Gadhafis Kämpfern gibt es reichlich, unter anderem Handyvideos, die unverhohlenen Drohungen des Diktators gegen Regimegegner im Staatsfernsehen.

Ob und wie schnell „Bruder Führer“ festgenommen und dem IStGh überstellt wird, ist eine andere Frage. Der Gerichtshof hat bekanntlich keine Polizei. Der andere amtierende Staatschef auf der Liste der Gesuchten, Sudans Omal al-Baschir, ist immer noch auf freiem Fuß und im Amt und erfreut sich darüber hinaus des mehr oder weniger verhohlenen Zuspruchs anderer afrikanischer Staatsoberhäupter.

Das lädt natürlich ein, wieder einmal an der Sinnhaftigkeit des Strafgerichtshofs zu zweifeln. Schließlich, so die Kritiker, habe die Ankündigungen von Ermittlungen Gadhafi keineswegs von weiteren Gräueltaten abgeschreckt. Und womöglich verbaue ein Haftbefehl dem Diktator den Weg ins Exil und ziehe damit den Krieg in die Länge.
Alles richtig und möglich. Bloß: Käme irgendjemand auf die Idee, die Strafverfolgung von Mafiabossen einzustellen, weil deren Organisation weiter mordet, raubt und erpresst? Und was die Frage des Exils betrifft: Natürlich kann ein Haftbefehl die Betroffenen veranlassen, sich erst recht im Krieg einzubunkern. Er kann aber auch den Machtzirkel um einen Diktator veranlassen, diesen zu verraten und „abzustoßen“. Völlig ausgeschlossen ist es also nicht, dass sich Charles Taylor und Muammar al-Gadhafi doch noch im Haager Untersuchungsgefängnis begegnen.

Nach Ansicht mehrerer Juristen gehört Gadhafi dort längst hin  – und zwar zusammen mit Taylor als Angeklagter im selben Verfahren. In der Anklageschrift des Sondergerichts zu Sierra Leone (SCSL) wird der Libyer ausdrücklich als Strippenzieher der westafrikanischen Bürgerkriege mit ihren Abertausenden von Toten aufgeführt. Haftbefehl wurde nie erlassen. Es habe mehrere Hindernisse gegeben, erklärte unlängst in einem Interview der amerikanischer Völkerstrafrechtler David Crane, von 2002 bis 2005 Chefankläger des Tribunals. „Eines davon war politisch.“ Auf Nachfrage bestritt Crane allerdings, dass westliche Länder Druck auf ihn ausgeübt hätten, Gadhafi zu schonen. Der hatte 2003 mit dem Verzicht auf den Bau von Massenvernichtungswaffen seinen Pariah-Staat weitgehend von Sanktionen befreit. Europäische Regierungschefs gaben Gadhafi wieder die Hand, libysches Erdöl floss wieder nach Europa, die EU hofierte den Diktator als Türsteher gegen afrikanische Migranten, bis Gadhafi im Februar 2011 friedliche Demonstranten in Bengasi niederschießen ließ und dem arabischen Frühling eine blutiges Ende zu machen drohte. Daraufhin fiel der internationalen Staatengemeinschaft, allen voran Frankreich und Großbritannien, auf, dass Gadhafi mitsamt seiner bizarren Skrupellosigkeit verzichtbarer ist, als er selbst meinte. Im Februar verhängte der UN-Sicherheitsrat Sanktionen und verwies den Fall Libyen an den IStGh. Wenige Wochen später folgte Resolution 1973 – und damit die internationalen Bombenangriffe auf Gadhafis Panzer.

Für den Haager Gerichtshof kann die vermeintliche Aufwertung durch den Sicherheitsrat durchaus zum Bumerang werden. Erstens ist die Anklagebehörde, die in der Vergangenheit häufig eine unglückliche Figur abgegeben hat, überlastet. Zweitens gerät der Gerichtshof im Fall Libyen massiv unter Druck, mit den politischen Ereignissen Schritt halten zu müssen. Das hat noch keinem Verfahren gut getan hat. Justiz ist nun mal langsamer als Politik und Krieg.

Womöglich wird also ein Prozess gegen Muammar al-Gadhafi, so er denn nach Den Haag ausgeliefert wird, erst in zwei oder drei Jahren beginnen, wenn sich kaum ein Fernsehsender oder Krisenstab mehr für Libyen interessiert. Was nichts daran ändert, dass Gadhafi au die Anklagebank gehört. Seit Jahren schon.