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„In der wirtschaftlichen Misere gedeiht keine Demokratie“ – ein Gespräch mit der tunesischen Bürgerrechtlerin Sihem Bensedrine

Zur Feier des Jahres ein Interview. Genauer gesagt: aus Anlaß des ersten Jahrestages der tunesischen Revolution. Am 14. Januar floh Präsident Ben Ali aus dem Land. Das Datum markiert den ersten Diktatorensturz des arabischen Frühlings.

Zu Ben Alis entschlossenen Gegners zählte immer schon die Journalistin Sihem Bensedrine. Die heute 61jährige ist eine der bekanntesten Bürgerrechtlerinnen Tunesiens. Unter dem alten Regime wurde sie verhaftet und gefoltert. Nachdem ihre Zeitung „Kalima“ („Die Stimme“)  verboten worden war, gründete sie ein Online-Journal mit gleichem Namen. Unterstützt durch die Hamburger Stiftung für Politisch Verfolgte, war sie vorübergehend in Deutschland im Exil. Anfang 2011, nach dem Beginn der „Jasmin-Revolution“, kehrte die Mutter dreier Kinder nach Tunesien zurück. Inzwischen ist sie Chefredakteurin von „Radio Kalima“. Anfang dieser Woche war sie Gast der „Martin-Luther-King Lecture“ der Hamburger Körber-Stiftung.

DIE ZEIT: Wie sieht Ihre erste Zwischenbilanz aus – ein Jahr nach dem Sturz Ben Ali’s?

Sihem Bensedrine: Die Revolution selbst ist eine ungeheure Errungenschaft. Das zu betonen, ist mir sehr wichtig, weil das Bewusstsein um diesen Erfolg so schnell verblasst. Tunesien hat in diesem vergangenen Jahr Wahlen für eine Verfassungsgebende Versammlung wie auch für eine nunmehr demokratisch legitimierte Regierung durchgeführt. Mit der Teilnahme an diesen Wahlen hat jeder Tunesier seine Existenz als Bürger, als citoyen, zurück erobert. Was das bedeutet, wie sich das anfühlt, hatte man bei uns fast schon vergessen.
Ganz wichtig auch: viele Tunesier haben sich nicht einfach mit dem Sturz von Ben Ali zufrieden gegeben. Sie sind weiter auf die Straße gegangen, um gegen Versuche der Übergangsregierung zu demonstrieren, ihre Rechte zu beschneiden. Diese Wachsamkeit und Energie haben signalisiert, dass sich die Menschen nicht wieder einlullen lassen.

ZEIT: Die Aufstände in der Region sind noch lange nicht beendet. In Syrien eskaliert die Gewalt immer weiter. Katar hat gerade erst die Entsendung arabischer Truppen nach Syrien empfohlen. Wie denkt man in Tunesien über eine militärische Intervention?

Bensedrine: Unsere Regierung unterstützt den Syrischen Nationalrat (Der SNC hielt im Dezember eine große Konferenz in Tunis ab, d.Red.). Ebenso haben wir seinerzeit die libysche Revolution unterstützt, unter anderem, indem wir Massen von Flüchtlingen aufnahmen. Aber unsere eigene Revolution war eine gewaltfreie. Und ich glaube nicht, dass eine militärische Intervention in Syrien durch arabische Truppen von den Tunesiern akzeptiert würde.

ZEIT: Wie stark ist das regionale Netzwerk von Aktivisten der Demokratie-Bewegungen in der Region?

Bensedrine: Wir kooperieren mit demokratischen Gruppen in Syrien und arbeiten auch im Bereich von Justiz und Rechtsstaatlichkeit eng mit libyschen und ägyptischen Partnern zusammen. Tunesien hat inzwischen das Statut von Rom anerkannt, ist jetzt also Mitgliedsstaat des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag. Kampf gegen Straflosigkeit und eine politisch und symbolische Anerkennung der Opfer von Diktatur spielen für unsere Gesellschaft eine wichtige Rolle. Da schauen wir auch auf die Erfahrungen europäischer Länder, zum Beispiel Polens und der ehemaligen DDR, aber auch auf Südafrika.

ZEIT: Stellt der Sieger der Wahlen in Tunesien, die islamistische Ennahda-Partei, eine Gefahr für die Errungenschaften der Revolution dar, wie viele europäische Medien aber auch viele laizistische Gruppen in Tunesien glauben?

Bensedrine: Ennahda hat – und das wird in der europäischen Berichterstattung gern verdrängt – keine absolute Mehrheit. Sie muss mit zwei Koalitionspartnern aus dem linken Spektrum regieren. Es gibt außerdem eine rege Opposition im Parlament. Und es gibt eine sehr starke Zivilgesellschaft in Tunesien. Die ist sich sehr wohl klar darüber, dass Frauenrechte kein Zugeständnis des autoritären Ben-Ali-Regimes gewesen sind, sondern dass Frauen und auch Männer dafür immer kämpfen mussten. Natürlich gibt es auch in Tunesien das Risiko eines anti-freiheitlichen Rückschritts und damit auch eine Gefahr für die Rechte der Frauen. Das hat aber nichts per se mit dem Umstand zu tun, dass Ennadha eine islamistische Partei ist, sondern dass sie in ein patriarchales System eingebettet ist.

ZEIT: Welche konkreten Forderungen in Bezug auf Frauenrechte stellen Sie?

Bensehdrine: Es gibt noch einiges im Erb-und Familienrecht zu ändern. Zum Beispiel steht Frauen nur die Hälfte dessen zu, was Männer erben. Und noch gilt, dass der Ehemann und Vater letztlich seine Zustimmung zu fast allen Entscheidungen muss, die die Kinder eines Paares betreffen. Wir fordern weiterhin entsprechende Reformen, aber ich würde auch sagen: alles zu seiner Zeit. Wir befinden uns momentan in einer prekären Übergangsphase. Es geht jetzt um die Konsolidierung des Erreichten. Und ich sehe die Gefahr für Frauenrechte auch weniger von Seiten der Regierung als von Seiten bestimmter Gruppen in der Gesellschaft…

ZEIT: …zum Beispiel den radikal-islamistischen Salafisten

Bensedrine: Die vor allem. Aber das ist nun mal der Effekt einer freiheitlichen Revolution. Ist sie erfolgreich, profitieren auch solche Minderheiten von den erkämpften Rechten auf Meinungsfreiheit, die eben nicht für Toleranz stehen. Das ist eine Herausforderung, mit der eine Gesellschaft wie die unsere umgehen muss.

ZEIT: Die Europäische Union, lange Zeit ein zuverlässiger Partner der Diktatoren, hat den Ländern des arabischen Frühlings zügige und nachhaltige Hilfe bei der politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung versprochen. Hat die EU aus Ihrer Sicht bislang Wort gehalten?

Bensedrine: Die europäischen Regierungen haben begriffen, dass der Prozess der Demokratisierung in Tunesien auch dann weitergeht, wenn zunächst einmal eine Regierung an die Macht kommt, die ihnen nicht passt. Aber wir brauchen natürlich europäische Unterstützung, um die Säulen zu festigen, die zu einer öffentlichen Kontrolle politischer Macht beitragen sollen: die Medien und die Zivilgesellschaft. Wir brauchen Hilfe beim Aufbau von NGOs, vor allem aber bei der Aus-und Fortbildung von Journalisten.

ZEIT: Es hat zum ersten Jahrestag des Sturzes von Ben Ali nicht nur Feiern sondern auch neue Proteste gegeben, weil sich an der Armut und Arbeitslosigkeit nichts geändert hat…

Bensedrine: Uns allen ist klar: Mitten im wirtschaftlichen Elend gedeiht keine Demokratie. Wir brauchen ein Minimum an Wachstum. Wir brauchen Investitionen, wir brauchen vor allem Jobs für die jungen Leute…

ZEIT: …die zur Zeit in Tunesien nicht zu finden sind…

Bensedrine: Hierbei spielt Europa und seine Migrationspolitik eine zentrale Rolle. Ich spreche ja keinem Staat das Recht ab, seine Grenzen gegen illegale Einwanderung zu schützen. Aber das Thema Migration wird in europäischen Ländern innenpolitisch instrumentalisiert – und das nützt weder den Europäern, noch uns. Wir haben während der Libyen-Krise Abertausende Flüchtlinge aufgenommen, ohne groß zu jammern. Natürlich sind die meisten inzwischen wieder in ihre Heimatländer zurück gegangen. Aber vor diesem Hintergrund wundert man sich schon ein wenig, über die Panik, die in Europa angesichts illegaler Migranten aus dem Maghreb ergreift. Tunesier, die nach Europa aufbrechen, wollen zweierlei: einen Job und die Würde, die damit einhergeht, dass man Arbeit hat. Das sind keine Massen von Menschen, wir sind ja auch wahrlich kein großes Land. Aber diese Leute sind oft recht gut ausgebildet, und wenn sie sich die OECD-Statistiken ansehen, dann braucht Europa auf Dauer Migranten. Und wir brauchen dringend Menschen, die im Ausland verdientes Geld nach Hause schicken. Ich wünsche mir seitens Europas ein sozio-ökonomische Herangehensweise an das Thema Migration: Zum Beispiel durch ein Programm für Visa und Arbeitsgenehmigungen. Das wäre ein dringend nötiges Zeichen der Solidarität mit unserer jungen Demokratie.

 

Nicht nur, weil heute Frauentag ist…

…stelle ich Sophie Miblisi vor. Mitte zwanzig, wohnhaft in Kamituga, ledig, beschäftigt als Klempnerin im städtischen Hospital. Und damit – so nehme ich an – eine der wenigen Frauen, wenn nicht die einzige in der ganzen Provinz Süd-Kivu, die ihren Lebensunterhalt damit verdient, Rohre zu verlegen und Wasserhähne zu montieren.
Die männlichen Kollegen, sagt Miblisi, hätten etwas Zeit gebraucht, sich an diesen Anblick zu gewöhnen.
Miblisis Geschichte ist ungewöhnlich genug. Sie wurde noch ungewöhnlicher, als ihre Arbeitgeber,  die kongolesische Krankenhausleitung und die Mitarbeiter der deutschen NGO Cap Anamur, entdeckten, dass sie Psychologie studiert hat. Weswegen Miblisi plötzlich einen zweiten Job ausübte, als eines Tages im Spätsommer eine Karawane der Überlebenden im Hospital auftauchte – Überlebende des andauernden Krieges gegen Frauen.

Über 40 Mütter, Großmütter, Mädchen, Bäuerinnen, Händlerinnen aus dem Hinterland, alle Opfer von Vergewaltigungen und anderen Gräueltaten, hatten sich in den Wäldern unweit Kamitugas gesammelt, um gemeinsam im Krankenhaus Hilfe zu suchen. Die meisten waren offenbar Opfer von Hutu-Rebellen der FDLR geworden, hatten zum Teil schwere körperliche Verletzungen und seelische Traumata erlitten. Was genau eine Psychologin macht, war ihnen nicht klar. „Ich habe ihnen gesagt, dass ich für das hier zuständig bin,“ sagt Miblisi und legt ihre Hand auf ihr Herz. „Und für ihren Kopf, für die Angst und die schlimmen Träume.“

Dann hätte sie einfach angefangen, mit den Frauen zu reden, sie einfach weinen oder beten oder erzählen zu lassen. Von der Vergewaltigung, von den Tätern, von der Schande und der Verachtung oder manchmal auch der Hilfe durch die Dorfgemeinde. „Es ist ja nicht nur der Körper, der leidet,“ sagt Miblisi. Richtige Therapie sei das natürlich nicht gewesen, sie habe wenig Zeit gehabt, denn die meisten Frauen sind nach der medizinischen Behandlung wieder zurück. Und ihr selbst fehle es eben noch an Schulung, an Fortbildung durch erfahrene Therapeuten und Therapeutinnen.

Das Gespräch mit Miblisi fand im Dezember statt. Dass man in Kamituga den Vergewaltigten überhaupt helfen konnte, verdankt sich, wie früher schon berichtet, einem joint venture zwischen Provinzverwaltung, der Hilfsorganisation Cap Anamur und der örtlichen Krankenhausleitung. Innerhalb von gut zwei Jahren hat sich dieses Hospital von einer durch Krieg und Verfall zerrütteten Siechenanstalt in ein funktionierendes Hospital verwandelt – das erste außerhalb der Provinzhauptstadt Bukavu.

Über diese Wiederauferstehung könnten die Mitarbeiter von Cap Anamur inzwischen Romane schreiben. Kleinere Flüchtlingskatastrophen waren zu bewältigen, Dächer zu decken, Bettengestelle neu zu verschweißen. Einen Sack Zement bekommt man im Kongo nicht auf dem Baumarkt, sondern erst nach kompliziertem logistischem Aufwand, die Zollbefreiung ebenso. Die Einstellung eines Krankenwagenfahrers endete zunächst mit der Testfahrt eines Bewerbers an einer neuen Mauer, und der OP-Saal sah bei meinem letzten Besuch im Dezember auch noch renovierungsbedürftig aus.

Aber inzwischen funktioniert die Bezahlung des Personals, die Behandlungskosten sind auf erträgliche Raten gesenkt worden, und das einheimische Chirurgenteam kann Notoperationen durchführen, wenn sich, wie unlängst geschehen, ein Soldat der notorisch schlecht ausgebildeten Armee beim Reinigen des Gewehrs eine Kugel in den Kiefer jagt. Die deutschen Cap Anamur-Ärzte hatten in den ersten Monaten ihres Wirkens so großen Eindruck hinterlassen, dass sich die PatientInnen nur noch von Weißen behandeln lassen wollte. Aber, sagt Gilbert Kibala, Chefchirurg und jüngerer Bruder des Vize-Gouverneurs, „das haben wir den Leuten schnell wieder abgewöhnt.“

Inmitten dieser kleinen und großen Fortschritte gegen alle Widrigkeiten platzen dann wieder Meldungen wie jene mit dem Aktenzeichen NI/OSMR/150210 der UN-Mission im Kongo. Am 12. Februar haben demnach Angehörige der FDLR bei einem Angriff auf das Dorf Bisembe (rund 30 Kilometer von Kamituga) 15 Frauen entführt. Acht konnten fliehen, die sieben anderen wurden ermordet aufgefunden.

Sophie Miblisi hat ihre Fortbildung inzwischen hoffentlich erhalten. An Patientinnen wird es ihr, so steht zu befürchten, in absehbarer Zukunft nicht mangeln. Die Gewalt gegen Frauen im Kongo ist nach wie vor eine Epidemie. Und trotz mühsamer kleiner Erfolge im Kampf gegen die Straflosigkeit gehen die meisten Täter – egal ob Rebellen, Soldaten oder Zivilisten – weiterhin straffrei aus. Das hat wieder einmal die „International Federation for Human Rights“ (FIDH) festgestellt, die anlässlich des Internationalen Frauentags ein lesenswertes Dossier zum Stand der Frauenrechte in afrikanischen Ländern herausgebracht hat. Demnach hat es im Kongo in den vergangenen Jahren nennenswerte gesetzgeberische Fortschritte gegeben – und eben auch ein horrendes Defizit bei der Durchsetzung und Implementierung.

Immerhin haben die Staatsanwälte von Katanga, der Nachbarprovinz Süd-Kivus, nun geschworen, verurteilte Vergewaltiger nicht mehr vorzeitig zu entlassen und Haftstrafen nicht mehr zur Bewährung auszusetzen. Auf Vergewaltigung steht derzeit eine Höchststrafe von 25 Jahren nach kongolesischem Recht.

Der Vorsatz klingt gut, allerdings stößt er auf zwei gigantische Hindernisse: Korruption im Justizapparat und verheerende Zustände in den Haftanstalten. Der Kongo braucht nicht nur dringend halbwegs funktionierende Krankenhäuser, er braucht auch dringend halbwegs funktionierende Gefängnisse.