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Der Morgen danach – Europa hat einen neuen Staat

Auto-Konvois, ein Meer von Fahnen, Feuerwerk, Beethovens „Ode an die Freude“, reichlich albanische Volksmusik und Raki, der landesübliche Traubenschnaps. Allen Unkenrufen zum Trotz verlief die Geburt des neuen Staates Kosovo friedlich. Für rund 1.8 Millionen Kosovo-Albaner wurde ein Traum wahr – und zwar unter strikten Regiervorgaben der internationalen Staatengemeinschaft. Hashim Thaci, nunmehr Premierminister eines (eingeschränkt) souveränen Staates musste die Unabhängigkeitserklärung auf albanisch und serbisch verlesen, ausdrücklich den „multi-ethnischen“ Charakter der neuen Republik Kosovo betonen; die neue offizielle Fahne des Landes durfte keine nationalistischen Elemente enthalten – soll heißen: keine Ähnlichkeit mit dem Doppeladler auf rotem Hintergrund, dem Symbol der einstigen Rebellengruppe UÇK.Und nun?Nun wandert die Aufmerksamkeit von Prishtina nach Brüssel, wo heute im Lauf des Vormittags vermutlich die ersten EU-Mitgliedsländer den neuen Ministaat anerkennen werden – darunter wohl auch Deutschland. Von dort wird der mediale Scheinwerferkegel nach Belgrad schwenken, wo gestern nationalistische Hooligans die amerikanische Botschaft attackierten, sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferten und wo die Regierung für diese Woche Massenproteste angekündigt hat. Was zu erwarten war und als Ventil für die Wut vieler Serben wohl auch notwendig ist. Die richtet sich vor allem gegen die Kosovo-Albaner, gegen die USA und die EU, unterschwellig aber auch gegen Russland. Denn die vermeintliche Schutzmacht hat trotz aller Treueschwüre an das slawische Bruderland die Sezession der Provinz, der „Wiege des Serbentums“, nicht verhindert. Sie konnte sie nicht verhindern.Schalten wir kurz nach Moskau: die russische Regierung hat gegen die einseitige Unabhängigkeitserklärung protestiert und eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates einberufen, hat ihren Ton in den vergangenen Wochen aber deutlich entschärft. Was wohl heißen soll: Der Konflikt mit dem Westen bleibt bestehen, doch der Kreml will ihn derzeit nicht eskalieren.Zurück ins Kosovo, nicht nach Prishtina, sondern nach Mitrovica, der geteilten Stadt im serbisch dominierten Norden des Landes. Dort explodierte gestern eine Handgranate, geworfen auf ein UN-Gebäude, in das Angehörige der neuen EU-Mission ziehen sollen. Keine Verletzen, nur Sachschaden und eine klare Botschaft: nördlich des Flusses Ibar wird die Unabhängigkeitserklärung als Kampfansage verstanden. Hier haben sich rund 60.000 Serben nie der UN-Verwaltung, geschweige denn der bis gestern provisorischen kosovarischen Regierung unterworfen. Sie werden sich auch jetzt keiner kosovarischen Regierung mitsamt ihren EU-Aufpassern unterwerfen. Da mag Hashim Thaci, der ehemalige UÇK-Funktionär, noch so oft vom Schutz der Minderheiten sprechen.Soll heißen: die Republik Kosovo wird bis auf weiteres nicht die Kontrolle über ihr gesamtes Territorium haben. Sie ist zweigeteilt, hat von der Stunde ihrer Geburt an ein „eingebautes Zypern-Problem“. Für das wird sich so schnell keine Lösung finden, allenfalls ein Modus Vivendi, bei dem der Norden de facto unter serbischer Verwaltung bleibt, de jure aber zur Republik Kosovo gehört. Ein verrücktes Deja Vu. Was das Kosovo für Serbien bedeutet, bedeutet Nord-Mitrovica jetzt für die Republik Kosovo: eine abtrünnige „Provinz“.Schön anzuschauen ist das also nicht: die Unabhängigkeit ist völkerrechtlich, gelinde gesagt, umstritten; die EU ist längst nicht so einig, wie sie sein sollte, der Konflikt mit Moskau keineswegs beigelegt; die Emotionen aus albanischer und serbischer Seite sind hochgeschaukelt, was sich bei ersteren vorläufig in rauschender Euphorie ausdrückt, bei letzteren in grenzenloser Verbitterung. Beide Varianten sind politisch potenziell gefährlich. Euphorie kann leicht in Enttäuschung umschlagen, wenn der heiss ersehnten Unabhängigkeit nicht schnell wirtschaftliche Verbesserungen folgen. Und Verbitterung kann schnell zum Boden für Militanz werden.Aber für den Morgen danach gilt erst einmal: die Geburt des neuen Staates ging weitgehend reibungslos über die Bühne – allen Unkenrufen zum Trotz.

 

Nächste Ausfahrt Brüssel oder Moskau? Serbien wählt einen neuen Präsidenten

Da standen sie nun, mitten in New York, und gaben sich immerhin die Hand. Boris Tadic, Präsident Serbiens, dessen Staatsterritorium demnächst um 10.000 Quadratkilometer schrumpfen wird. Und Hasim Thaçi, Premierminister jener noch provisorischen Regierung des Kosovo, dessen Parlament in wenigen Wochen die Unabhängigkeit verkünden wird.

Thaçi hatte gerade dem Sicherheitsrat im New Yorker UN-Hauptquartier erklärt, nur die Unabhängigkeit des Kosovo könne Ruhe in die Region bringen. Tadic hatte beschworen, dass Serbien die Sezession der Provinz nie und nimmer akzeptieren wird. Als Hintergrundmusik war das übliche russische Grummeln zu hören. Russland werde dafür sorgen, so UN-Botschafter Witali Tschurkin, dass das Kosovo weder „Mitglied der UN noch anderer internationaler Institutionen werden“ könne. Mit anderen Worten: das Kosovo soll wie Taiwan am Katzentisch der Staatengemeinschaft sitzen. Die Drohung ist nicht neu. Aber was würde sie eigentlich bedeuten?

Nun, der Vergleich mit Taiwan hinkt schon insofern, als sich das Kosovo der Anerkennung mächtiger Nationen sicher sein kann: darunter die USA und die Mehrheit der EU-Mitgliedsländer. Einen Sitz bei den Vereinten Nationen, den die Kosovaren natürlich wollen, kann Russland trotzdem blockieren. Die UN heißen jedes „friedliebende Land“ willkommen, das den Verpflichtungen der Charta nachkommen kann. Friedliebend ist das Kosovo inzwischen schon, aber wer Mitglied in diesem Club der Nationen werden will, braucht eine Empfehlung des Sicherheitsrats. Dort sitzt Herr Tschurkin und wird bis auf weiteres mit dem Daumen nach unten zeigen.

Sind damit auch die Türen zu anderen internationalen Institutionen verwehrt? Zum Beispiel zur Weltbank und zum Internationalen Währungsfonds (IWF), auf dessen Kredite die kosovarische Regierung sehnlichst wartet?
Keineswegs. Weltbank und IWF sind zwar Sonderorganisationen der UN, doch es können auch Länder ohne UN-Sitz beitreten. Und Veto-Macht im Sicherheitsrat interessiert dort niemanden. Hier ist Russland nur eines von 185 Mitgliedern. Deren Macht und Stimmanteile richtet sich nach ihrem jeweiligen Kapitalanteil. Entscheidungen müssen im IWF mit einer Mehrheit von 85 Prozent getroffen werden. Die USA, Japan und die EU-Länder bringen allein schon über 50 Prozent auf. Russland kommt gerade mal auf 2.7 Prozent.
Bleibt noch jene Institution, die für Gedeih oder Verderb eines unabhängigen Kosovo am wichtigsten ist: die EU. Da hat Russland unmittelbar gar nichts mitzureden. Aber es kann Störmanöver durchführen.

Denn die EU will ja in den kommenden Jahren das Kunststück versuchen, das gesamte Ex-Jugoslawien zu integrieren, zu assoziieren, oder, wie im Fall des Kosovo, als „Aufpasser“ erst einmal „europa-tauglich“ zu machen. Sollte das gelingen, dann könnten sich in zehn oder fünfzehn Jahren kroatische, bosnische, serbische und kosovarische Europa-Abgeordnete in Straßburg begegenen. Sollte es scheitern, dann allerdings hätte es die EU in ihrem „Hinterhof“ mit einem latenten, russisch angeheizten Dauerkonflikt zu tun.

Der nächste Akt in diesem Stück spielt aber nicht in Brüssel, sondern an diesem Sonntag in Serbien. Dort findet die erste Runde der Präsidentschaftswahlen statt. Es gibt zwei aussichtsreiche Anwärter: Amtsinhaber Boris Tadic. Der lehnt die Sezession des Kosovo natürlich ab, will sein Land aber trotzdem auf einem pro-europäischen Kurs halten will. Kommt nicht in Frage, sagt Tomislav Nikolic, der Kandidat der Radikalen Partei. In seinen Augen ist die Unabhängigkeit des Kosovo der nächste Dolchstoß des Westens in den serbischen Rückern – und Tadic’s New Yorker Händedruck mit dem Kosovo-Albaner Thaçi eine Geste des Verrats. Eine „Europäisierung Serbiens“ lehnen die Radikalen ab. Ähnlich wie die Demokratische Partei Serbiens (DSS) des amtierenden Premierministers Kostunica setzen sie auf einen Schulterschluß zwischen Belgrad und Moskau.

Und so hofieren die EU und Russland derzeit nach Kräften die serbische Regierung. Derzeit ist das besonders eindrucksvoll in der Ölbranche zu beobachten. Gazprom, Russlands Staat im Staate, möchte den serbischen Ölkonzern NiS kaufen, eine neue Erdgaspipeline von Russland über Bulgarien und Serbien nach Westeuropa legen und damit Serbien in sein Energieimperium eingliedern. Das alles zu Dumping-Preisen, gewissermaßen als Belgrader Gegenleistung für Moskaus Unterstützung in der Kosovo-Frage.
Konkurrenz kommt nun aus dem Westen. Mehrere europäische Unternehmen wollen offenbar höher bieten als Gazprom. Und die EU winkt mit dem Stabilisierungs-und Assoziierungsabkommen (SAA) – und sieht derzeit gnädig darüber hinweg, dass Serbien immer noch nicht Ratko Mladic an das UN-Jugoslawien-Tribunal ausgeliefert hat.

Was bei den Bürgern in Serbien stärker zieht, wird sich spätestens nach dem zweiten Wahlgang Anfang Februar abzeichnen. Tadic oder Nikolic? Letzterer hat sich in diesem Wahlkampf angeblich die Dienste einer amerikanischen PR-Firma gesichert, die schon das Image von Bill Clinton und George W. Bush aufpoliert haben soll. Merke: Auch Ultra-Rechte schreien national und denken global.

 

Abschied vom „Pulverfass“

Zum Jahresende ein kurzes Resümee vom Balkan, Europas vielbeschworenem Sorgenkind. Eine der beliebtesten Metaphern von uns Journalisten war im Jahr 2007 das „Pulverfass Kosovo“. Wann „explodiert“ es? Kommt der „nächste „Balkankrieg“? Platz zwei unter den Top-Klischees: das „zerstrittene Europa“, auch genannt „zaudernde EU“ oder „europäischer Hühnerhaufen“. Knapp abgeschlagen auf Platz drei: Das Kosovo als „Ministaat der Mafiaclans“.

Fangen wir von hinten an: das ewige, Unheil kündende Geschrei vom Kosovo als Oase der kriminellen Großfamilie nervt, um es einmal salopp auszudrücken. Ja, es gibt im Kosovo organisierte Kriminalität und Korruption, und die Kosovaren selbst sind die Ersten, denen deswegen der Kragen platzt. Aber diese Probleme sind kein naturgesetzlicher Zustand, sondern klassisches Phänomen einer Nachkriegsgesellschaft. Soll heißen, man kann sie bekämpfen.

Was den „Familienclan“ betrifft, der unter der Fuchtel eines finster dreinblickenden Patriarchen steht: Clans und Patriarchen sind, wie so vieles in einer Nachkriegsgesellschaft, auch nicht mehr das, was sie mal waren. Sie sind konfrontiert mit einer städtischen jungen Generation, deren Frauen traditionelle Strukturen in Frage stellen; mit einer Diaspora, die aus dem europäischen Ausland andere Lebensvorstellungen nach Hause bringen.

Kommen wir zum Klischee vom zaudernden, unfähigen Europa, dass sich auf dem Balkan immer wieder blamiert habe: Die EU hat sich während des blutigen Zerfalls Jugoslawiens wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. Aber inzwischen hat man in Brüssel gelernt. Die Taktik Russlands, durch seine Blockade-Haltung in der Kosovo-Frage die EU zu spalten, hat offenbar das Gegenteil bewirkt. Es gibt zwar nach wie vor erklärte Gegner einer einseitigen Unabhängigkeit des Kosovo – vor allem sind das die Slowakei, Rumänien und Zypern – doch werden diese Länder nicht die geplante Mission blockieren, mit der die EU das UN-Protektorat ablösen und den Weg des Kosovo in die volle Unabhängigkeit „überwachen“ wird. 1:0 für Brüssel lautet das Zwischenergebnis in diesem Dauerclinch mit Moskau.

Und weil wir gerade bei den guten Nachrichten sind: sechs Jahre nach Ende der Balkan-Kriege haben alle Nachfolgeländer des ehemaligen Jugoslawiens ein Stabilisierungs-und Assoziierungsabkommen mit der EU unterschrieben oder ausgehandelt. Mag ja sein, dass das nicht hübsch anzusehen ist: in Serbien drohen weiterhin nationalistische Rückfälle. Bosnien ist immer noch mehr multiethnischer Boxring denn funktionierender Staat. In Kroatien steht eine ehrliche Auseinandersetzung mit den eigenen Kriegsverbrechern noch aus (wie überhaupt in allen Ländern des ehemaligen Jugoslawien). Aber wer hätte Mitte der neunziger Jahre geglaubt, dass aus dem Trümmerhaufen der Jugoslawienkriege ein europäischer Erweiterungsprozess würde?

Womit man beim „Pulverfass Balkan“ angelangt wäre: das „Pulverfass“ gehört in den Papierkorb. Die Behauptung, auf die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo folge der nächste Krieg, war und ist Panikmache. Weder Pristina noch Belgrad haben das Interesse oder die Ressourcen für einen neuen militärischen Konflikt – nicht zuletzt, weil sowohl Kosovaren wie Serben auf die europäische Perspektive hoffen.

Die Rhetorik mancher serbischer Politiker hört sich zweifellos anders an. Der amtierende Premierminister Kostunica droht gern damit, sein Land an Moskau anzubinden, falls ihm Europa und die USA das Kosovo „rauben“. Aber die Drohung wirkt leer, wenn man sieht, was Russland bislang bietet: viel Beschwörung der slawischen Bruderschaft und ein paar Wirtschaftsdeals im Energiesektor. Da leuchtet Brüssel doch etwas heller.

Nicht, dass damit alle Sorgen in der Region beseitigt wären. Für das serbisch dominierte Nordkosovo, das sich einer Unabhängigkeit widersetzen wird, muss eine Lösung gefunden werden. Im Gespräch ist derzeit eine neue Mini-UN-Verwaltung. In Serbien ist es, wie gesagt, denkbar, dass aus radikaler Kränkung über den Verlust des Kosovo (genauer gesagt: des damit verbundenen Mythos) der Kandidat der „Radikalen Partei“ im Januar zum Präsidenten gewählt wird. Ganz zu schweigen von den unzähligen Alltagsproblemen des Balkan wie Arbeitslosigkeit und marode Infrastruktur.

Aber für den Moment sieht es sehr viel besser aus, als noch vor wenigen Jahren zu erwarten war. Mit den verbleibenden Problemen und Krisen beschäftigen wir uns dann im nächsten Jahr.

 

Kosovo – Europas Dauerkrise

Eigentlich ist es nicht mehr als eine Vollzugsmeldung: Die Verhandlungen zwischen der serbischen Regierung und der Delegation des Kosovo über den zukünftigen Status des Kosovo sind gescheitert. Die Kosovaren bestehen auf der Unabhängigkeit, Serbien bietet wiederum dem Kosovo größtmögliche Autonomie, verweigert aber die Abspaltung. Dieses Ergebnis, das alle Beteiligten erwartet hatten, werden die Vermittler der sogenannten Troika, bestehend aus dem deutschen Diplomaten Wolfgang Ischinger, seinem amerikanischen Kollegen Frank Wisner und dem Russen Alexander Bozan-Chartchenko am 10. Dezember dem UN-Generalsekretär Ban Ki Moon überbringen.

Nun kann man sich zweierlei fragen: Wenn das Scheitern absehbar war, warum wurden dann in den vergangenen drei Monaten überhaupt Reisespesen und Arbeitszeit vergeudet? Und wie geht es jetzt weiter?

Die erste Frage ist noch halbwegs einfach zu beantworten: Seit Kriegsende 1999 gehört das Kosovo nur noch nominell zum Territorium Serbiens, steht jedoch auf Grundlage der UN-Resolution 1244 unter UN-Verwaltung. Auf Dauer ist das kein guter Zustand. Das finden vor allem die Albaner, die unabhängig sein wollen und bereits an einer Nationalhymne und einer eigenen Fahne basteln. Das findet aber auch die internationale Staatengemeinschaft, deren Auftritt als fürsorglicher Kolonialherr auf dem Balkan nicht unbedingt glücklich verlaufen ist. Also sollte das Kosovo mit neuer UN-Resolution in eine „überwachte Unabhängigkeit“ entlassen werden. Soll heißen: Die UN ziehen ab, eine EU-Mission „überwacht“ den weiteren Aufbau von Polizei-und Justizwesen, die KFOR-Truppen bleiben, um serbische Enklaven und Kulturgüter zu beschützen.

Dieser Fahrplan wurde zur Makulatur, als Russland seine globalen Muskeln und seine Liebe zu den „serbischen Brüdern“ wiederentdeckte und eine entsprechende Resolution im UN-Sicherheitsrat zu blockieren gelobte. (Nicht, dass es keine ernst zu nehmenden Argumente gegen eine Sezession des Kosovo gäbe. Nur darf man Moskau hier eher machtpolitische, denn prinzipielle Motive unterstellen.)

In Brüssel schreckten die Mitgliedsländer nach dem russischen „Njet“ hoch. Spanien, Rumänien, Griechenland und Zypern, allesamt selbst mit Minderheitskonflikten und Spaltungen belastet, meldeten nun Bedenken gegen einen neuen Mini-Staat im Balkan an. Die EU-Mission drohte schon im Aufbau zu scheitern. Da half nur eines: Zeit gewinnen. Wie? Indem man die Kontrahenten in eine neue Verhandlungsrunde schleppt und gleichzeitig hinter den europäischen Kulissen versucht, die Reihen zu schließen. Allerdings genau für den Fall, der jetzt eingetreten ist: das endgültige Scheitern der Gespräche – und damit die baldige Erklärung der Unabhängigkeit der Kosovaren. Gegen den Willen Serbiens und ohne völkerrechtliche Absicherung durch eine UN-Resolution.

Womit wir bei der zweiten, sehr viel schwierigeren Frage sind: Wie geht es weiter? Der designierte kosovarische Premierminister Hashim Thaçi hat noch für den Dezember eine einseitige Unabhängigkeitserklärung in Aussicht gestellt. Das klingt recht forsch, doch dürften Thaçi und das kosovarische Parlament nichts derartiges unternehmen, bevor nicht Washington und eine große Anzahl der EU-Mitgliedsstaaten ihre Zustimmung und Anerkennung des neuen Staates signalisiert haben. Das wird – bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber solchen Prognosen – voraussichtlich erst Anfang des nächsten Jahres der Fall sein.

Und dann? Dann werden die Kosovaren auf den Straßen feiern, während die 15.000 KFOR-Soldaten in erhöhte Alarmbereitschaft treten und die serbische Regierung ihrerseits zurückschlägt: Belgrad wird die „Grenze“ zum Kosovo schließen, den Waren- und Personenverkehr blockieren und Stromlieferungen einstellen, was den Alltag der Kosovaren zumindest kurzfristig noch beschwerlicher machen wird, als er ohnehin schon ist. Außerdem gilt als sicher, dass sich der von Serben dominierte Nord-Kosovo seinerseits vom neuen kosovarischen Staat abspaltet (eine politische Variante der biologischen Zellteilung) und seine Zugehörigkeit zu Serbien erklärt. Es wird spannend für die KFOR-Truppen, die im Nord-Kosovo stationiert sind – darunter demnächst womöglich auch 500 Bundeswehr-Soldaten. Deren Präsenz soll für Ruhe, Ordnung und Einheit sorgen, doch aus Belgrader Sicht wären sie dann eigentlich Interventionstruppen auf serbischem Territorium.

Blieben noch die Auswirkungen auf die Nachbarländer zu erwähnen: aus Mazedonien, wo seinerzeit dank rechtzeitiger internationaler Vermittlung ein Bürgerkrieg verhindert werden konnte, werden neue Spannungen zwischen den albanischen und slawischen Bevölkerungsgruppen gemeldet. In Bosnien verkünden die Führer der Serben, dass sie sich im Fall einer Unabhängigkeit des Kosovo ihrerseits berechtigt fühlen, sich abzuspalten und Serbien anzuschließen. Womöglich nur eine leere Drohung, aber jedenfalls trägt sie nicht zur Entspannung der Lage bei. Das Kapitel Balkan ist acht Jahre nach Kriegsende für Europa noch lange nicht abgeschlossen. Der Marathon hat gerade erst begonnen.

 

Wie ein Israeli die Wahl im Kosovo gewann

Zur Feier des Wahltages hatte die KEK den Kosovaren am Samstag versprochen, 24 Stunden lang Strom zu liefern. Die KEK ist keine politische Partei, sondern der einzige Stromkonzern im Kosovo. Das Kürzel steht offiziell für „Korporata Energjetike e Kosoves“, die Kosovaren aber lesen: „Korruption, Energiemangel und kalte Füße“.

Denn in weiten Teilen des Kosovo gilt acht Jahre nach Kriegsende immer noch der „drei-drei-Rhythmus“. Oder der „vier-zwei-Rhythmus“. Soll heißen: Ein paar Stunden lang kommt Saft aus der Steckdose, ein paar Stunden lang kommt nichts. Das schlägt gewaltig auf die Stimmung. Vor allem an kalten Novemberabenden.

Wenn man also wissen will, warum die Beteilung an der Parlamentswahl am Samstag so erbärmlich niedrig war (vorläufigen Schätzungen zufolge lag sie bei 40 bis 45 Prozent), dann lautet die Antwort ganz einfach: KEK.

KEK ist in den Augen der Kosovaren das Synonym für alle Enttäuschungen seit Ende des Krieges: für unfähige Politiker, die anhaltend katastrophale Arbeitslosigkeit von 60 Prozent, waschbeckengroße Schlaglöcher in den Straßen; für ein Universitätskrankenhaus, in dem, „du dir nicht mal den Blinddarm entfernen lassen möchtest“, sagt mein Übersetzer Shpetim. Und die KEK ist auch Synonym für eine äußerst unbeliebte UN-Verwaltung der wir uns an anderer Stelle ausführlich widmen werden.

Also blieben die meisten Kosovo-Albaner bei Schneeregen und Saukälte zuhause. Zumal die KEK ihr Verprechen weitgehend hielt und von morgens bis abends Strom lieferte. Wohnungen und Kneipen waren durchgehend beheizt, es war viel angenehmer, das politische Personal vor dem Fernseher zu beschimpfen, als ihm seine Stimme zu geben.

Zum Sieger der Wahl hatte sich gegen ein Uhr morgens Hashim Thaci erklärt, einst ein Kommandant der paramilitärischen UCK, jetzt Chef der oppositionellen Demokratischen Partei (PDK). Nach meiner völlig unrepresentativen Volksbefragung in diversen Kneipen von Prishtina gilt die PDK derzeit als „nicht ganz so schlimm“ wie die bislang regierende Demokratische Liga (LDK). Die Partei Ibrahim Rugovas, der inzwischen verstorbenen Kultfigur des anfangs gewaltfreien Kampfes um Unabhängigkeit, verlor aufgrund massiver Korruptionsvorwürfe und interner Machtkämpfe deutlich.

Platz drei geht an die „Allianz Neues Kosovo“, eine Neugründung des Baulöwen Behget Pacolli, der nach dem Motto „Wo-ich-bin-sind-Arbeitsplätze“ ein Ende der Wirtschaftsmisere versprach. Der Mann ist eine Art Ross Perot des Kosovo und wäre wahrscheinlich mit deutlich mehr Stimmen bedacht worde, hätte er seine Millionen nicht mit Bauprojekten in Moskau verdient. Wer sein Glück in Russland, dem entschiedenen Gegner kosovarischer Unabhängigkeit, gemacht hat, kann im Kosovo keine Wahlen gewinnen.

Bleiben die Dardanische Demokratische Liga, eine Abspaltung der LDK; die Allianz für die Zukunft des Kosovo (AAK) von Ramush Haradinaj – der ehemalige UCK-Kommandant war im Wahlkampf verhindert, weil er wegen Kriegsverbrechen vor dem Den Haager UN-Jugoslawien-Tribunal auf der Anklagebank sitzt. Und es bleibt die ORA, die Partei der kosovarischen Kaffeehaus-Intelligentsia unter Führung des Verlegers Veton Surroi. ORA wurde gestern offenbar unter die Fünf-Prozent-Marke durchgereicht. So widerfährt es Intellektuellen in der Politik, wenn das Volk nicht mehr weiss, wie es Brot und Benzin bezahlen soll.

Wie geht es nun weiter? „Mit der Unabhängigkeit“, sagt Hashim Thaci. Gleich nach dem 10. Dezember will er ein souveränes Kosovo ausrufen – dann nämlich, wenn die Troika aus EU, USA und Russland dem UN-Generalsekretär Ban Ki Moon das absehbare Scheitern der letzten Verhandlungsrunde zwischen Prishtina und Belgrad über den zukünftigen Status des UN-Protektorats verkündet.

Wahrscheinlich wird es so schnell nicht gehen. Irgendwann Anfang 2008, sagen die Kaffeesatzleser, wird das Kosovo unter serbischem Geschrei und kalkuliertem russichen Grollen in die ersehnte Unabhängigkeit stolpern. Und bis dahin dürfte der Euphorie-Pegel noch weiter sinken. Der Preis für einen Laib Brot ist in den vergangenen zwei Monaten von 25 auf 50 Cent gestiegen, der Liter Benzin kostet inzwischen 1,10 Euro, Billig-Zigaretten (für viele Kosovaren ein Hauptnahrungsmittel) 80 Cent pro Packung. Das macht bei einer Schachtel pro Tag 24 Euro im Monat, ein Zehntel des durchschnittlichen Monatsgehalts von 240 Euro – wenn man denn Arbeit hat.

Nicht, dass die Kosovo-Albaner von ihrer Forderung nach einem eigenen Staat abrückten. Aber die Zumutungen des Alltags trüben zunehmend die Vorfreude. Und so war es nicht verwunderlich, dass der Wirt der durchräucherten Trattoria „Tirana“ in Prishtina gestern abend die Wahlberichterstattung im Fernsehen abwürgte – und auf Fußball umschaltete.

Gerade rechtzeitig zur Schlussphase des Länderspiels Israel gegen Russland, Spielstand 1:1. Als dem Fussballzwerg Israel in der 92.Minute der Siegtreffer gelingt, liegen sich im „Tirana“ alle in den Armen. „Russia, ass kick“, brüllt einer der Gäste, damit sich auch die Ausländer im Lokal der politischen Bedeutung dieses Tores bewusst werden. Omer Golan heißt der Torschütze. Im „Tirana“ war er an diesem Samstag der Wahlsieger.

 

Spalten oder nicht spalten? Die Zukunft des Kosovo

So, jetzt ist das Tabu gebrochen. Was in den vergangenen Jahren und Monaten allenfalls hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurde, hat der deutsche Diplomat Wolfgang Ischinger nun offen ausgesprochen. Wenn’s denn gar nicht anders geht, dann sei nach der Unabhängigkeit des Kosovo auch eine Abspaltung des serbisch dominierten Nordens vorstellbar. „Wenn“, so Ischinger, „beide Seiten das wollen.“ Gut möglich, dass Ischinger in den nächsten Stunden oder Tagen wieder zurückrudert und beschwichtigt, aber das Gespenst ist nun aus der Flasche.

Wolfgang Ischinger ist nicht irgendwer, sondern Europas Vertreter in einer aus den USA, Russland und der EU bestehenden Troika. Die soll versuchen, die kosovo-albanische Übergangsregierung und die Regierung in Belgrad zu einem Kompromiss über den zukünftigen Status des UN-Protektorats zu bewegen. Bekanntermaßen ist ein solcher Kompromiss nicht vorstellbar: Für Belgrad ist die Unabhängigkeit des Kosovo undenkbar, für Prishtina der Verzicht darauf.

Ähnlich unvereinbar sind auch die Positionen innerhalb der Troika: die war überhaupt erst ins Leben gerufen worden, nachdem Russland im UN-Sicherheitsrat den Plan des UN-Vermittlers Martti Ahtisaari blockiert hatte, der das Kosovo in eine „überwachte Unabhängigkeit“ entlassen will. Russland will vom Ahtisaari-Plan eigentlich gar nichts mehr wissen, die USA wiederum bestehen darauf, und die EU zerfällt zunehmend in Gegner und Befürworter – schöne Voraussetzungen für ein Vermittlerteam.

Nun geistert also die Option der Teilung durch die Konferenzzimmer. Die war von allen internationalen Akteuren nach außen hin immer kategorisch abgelehnt worden, würde sie doch am Verhandlungstisch vollenden, was während der Balkankriege versucht worden war: ethnisch homogene Nationen zu schaffen.
Bekanntermaßen ist das Kosovo de facto aber längst geteilt. Die Serben nördlich des Flusses Ibar haben sich dort eine von Belgrad finanzierte Parallelverwaltung aufgebaut, deren Zentrum die Stadt Mitrovica ist. Diese Tatsache entblößt tagtäglich den Selbstbetrug der internationalen Gemeinschaft. Denn der Anspruch, mit dem NATO-Krieg gegen Serbien 1999 nicht nur die Vertreibung der Kosovo-Albaner zu stoppen, sondern im Kosovo auch eine multi-ethnische Gesellschaft zu „erhalten“, war von vornherein eine Illusion gewesen. Unmittelbar vor dem Krieg 1999 herrschte im Kosovo keine „multi-ethnische“-Gesellschaft, sondern eine Art Apartheid gegen die Albaner. Und nach dem Krieg gab es keine Akte der Versöhnung, sondern der blutigen Rache von Albanern an Serben und Roma, die man verwerflich finden muss, aber nicht verwunderlich.

Ist es dann nicht besser (und ehrlicher), diesen Staat im Wartestand auch de jure zu teilen? Zumal die Radikalen unter den Kosovo-Serben ohnehin angedroht haben, sich nach der Unabhängigkeit abzuspalten?
Nein, ist es nicht. Denn eine Abspaltung des Nordens würde vermutlich mehr Probleme schaffen als lösen. Erstens lebt mindestens die Hälfte der Kosovo-Serben südlich des Ibar. Eine Spaltung des Landes könnte die Spannungen massiv anheizen und eine Massenflucht der Serben aus dem Süden des Kosovo auslösen. Zweitens würde eine „Sezession in der Sezession“ sofort albanische Begehrlichkeiten nach dem Presovo-Tal im Süden Serbiens wecken, in dem mehrheitlich Albaner leben. Drittens befinden sich im Norden ein Teil der Bodenschätze (Zink, Lignit, Blei) und ein großer Teil der Industrieanlagen, die das Kosovo dringend für den Aufbau einer legalen Wirtschaft braucht.

Nicht, dass die Alternative einer vorerst „eingeschränkten Unabhängigkeit“ besonders charmant erscheint. Aber der Ahtisaari-Plan sieht für die mehrheitlich serbischen Regionen in einem unabhängigen Kosovo immerhin eine weit reichende Autonomie vor; die serbischen Kirchen und Klöster, die zu den schönsten in Europa zählen, wären durch einen Sonderstatus geschützt. Ausländische Truppen und EU-Beamte würden den neuen Staat auf Jahre hinaus begleiten und bewachen.

Ob der Ahtisaari-Plan je in Kraft treten wird, ist eine andere Sache – und damit wären wir bei der Preisfrage: wie sieht ein „likely case scenario“, ein wahrscheinliches Szenario, derzeit aus?
Etwa so: Russland stemmt sich weiterhin gegen die Unabhängigkeit des Kosovo und verhindert eine Sicherheitsrat-Resolution, die das UN-Protektorat völkerrechtlich „sauber“ in die eingeschränkte Unabhängigkeit entlässt. Das kosovarische Parlament ruft im Spätherbst einseitig die Unabhängigkeit aus. Die USA, die Schweiz und einige europäische Länder werden das Land sofort anerkennen, die russische Regierung wird fauchen, die serbische wird theatralisch den Verlust des Amselfeldes und damit der „Wiege der Nation“ beschreien. Die EU droht in diesem Fall in Befürworter und Gegner einer Unabhängigkeit zu zerfallen, aus der gesamteuropäischen Mission mit dem völkerrechtlichen Siegel einer UN-Resolution würde wahrscheinlich ein bilaterales Aufbau-Programm einiger EU-Länder mit der kosovarischen Regierung. Wer das verwirrend und beunruhigend findet, der sei hiermit getröstet: es geht allen so.
Die Zeit „eleganten Lösungen“ ist leider längst vorbei. „Warum hat die internationale Gemeinschaft das Kosovo nicht gleich nach dem Krieg 1999 unabhängig werden lassen“, fragte unlängst einer der wenigen serbischen Reformpolitiker in Belgrad. „Dann wäre Milosevic an allem Schuld gewesen und wir könnten uns heute mit wichtigeren Problemen beschäftigen.“ Dem bleibt nichts hinzuzufügen.