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Nächste Ausfahrt Brüssel oder Moskau? Serbien wählt einen neuen Präsidenten

Da standen sie nun, mitten in New York, und gaben sich immerhin die Hand. Boris Tadic, Präsident Serbiens, dessen Staatsterritorium demnächst um 10.000 Quadratkilometer schrumpfen wird. Und Hasim Thaçi, Premierminister jener noch provisorischen Regierung des Kosovo, dessen Parlament in wenigen Wochen die Unabhängigkeit verkünden wird.

Thaçi hatte gerade dem Sicherheitsrat im New Yorker UN-Hauptquartier erklärt, nur die Unabhängigkeit des Kosovo könne Ruhe in die Region bringen. Tadic hatte beschworen, dass Serbien die Sezession der Provinz nie und nimmer akzeptieren wird. Als Hintergrundmusik war das übliche russische Grummeln zu hören. Russland werde dafür sorgen, so UN-Botschafter Witali Tschurkin, dass das Kosovo weder „Mitglied der UN noch anderer internationaler Institutionen werden“ könne. Mit anderen Worten: das Kosovo soll wie Taiwan am Katzentisch der Staatengemeinschaft sitzen. Die Drohung ist nicht neu. Aber was würde sie eigentlich bedeuten?

Nun, der Vergleich mit Taiwan hinkt schon insofern, als sich das Kosovo der Anerkennung mächtiger Nationen sicher sein kann: darunter die USA und die Mehrheit der EU-Mitgliedsländer. Einen Sitz bei den Vereinten Nationen, den die Kosovaren natürlich wollen, kann Russland trotzdem blockieren. Die UN heißen jedes „friedliebende Land“ willkommen, das den Verpflichtungen der Charta nachkommen kann. Friedliebend ist das Kosovo inzwischen schon, aber wer Mitglied in diesem Club der Nationen werden will, braucht eine Empfehlung des Sicherheitsrats. Dort sitzt Herr Tschurkin und wird bis auf weiteres mit dem Daumen nach unten zeigen.

Sind damit auch die Türen zu anderen internationalen Institutionen verwehrt? Zum Beispiel zur Weltbank und zum Internationalen Währungsfonds (IWF), auf dessen Kredite die kosovarische Regierung sehnlichst wartet?
Keineswegs. Weltbank und IWF sind zwar Sonderorganisationen der UN, doch es können auch Länder ohne UN-Sitz beitreten. Und Veto-Macht im Sicherheitsrat interessiert dort niemanden. Hier ist Russland nur eines von 185 Mitgliedern. Deren Macht und Stimmanteile richtet sich nach ihrem jeweiligen Kapitalanteil. Entscheidungen müssen im IWF mit einer Mehrheit von 85 Prozent getroffen werden. Die USA, Japan und die EU-Länder bringen allein schon über 50 Prozent auf. Russland kommt gerade mal auf 2.7 Prozent.
Bleibt noch jene Institution, die für Gedeih oder Verderb eines unabhängigen Kosovo am wichtigsten ist: die EU. Da hat Russland unmittelbar gar nichts mitzureden. Aber es kann Störmanöver durchführen.

Denn die EU will ja in den kommenden Jahren das Kunststück versuchen, das gesamte Ex-Jugoslawien zu integrieren, zu assoziieren, oder, wie im Fall des Kosovo, als „Aufpasser“ erst einmal „europa-tauglich“ zu machen. Sollte das gelingen, dann könnten sich in zehn oder fünfzehn Jahren kroatische, bosnische, serbische und kosovarische Europa-Abgeordnete in Straßburg begegenen. Sollte es scheitern, dann allerdings hätte es die EU in ihrem „Hinterhof“ mit einem latenten, russisch angeheizten Dauerkonflikt zu tun.

Der nächste Akt in diesem Stück spielt aber nicht in Brüssel, sondern an diesem Sonntag in Serbien. Dort findet die erste Runde der Präsidentschaftswahlen statt. Es gibt zwei aussichtsreiche Anwärter: Amtsinhaber Boris Tadic. Der lehnt die Sezession des Kosovo natürlich ab, will sein Land aber trotzdem auf einem pro-europäischen Kurs halten will. Kommt nicht in Frage, sagt Tomislav Nikolic, der Kandidat der Radikalen Partei. In seinen Augen ist die Unabhängigkeit des Kosovo der nächste Dolchstoß des Westens in den serbischen Rückern – und Tadic’s New Yorker Händedruck mit dem Kosovo-Albaner Thaçi eine Geste des Verrats. Eine „Europäisierung Serbiens“ lehnen die Radikalen ab. Ähnlich wie die Demokratische Partei Serbiens (DSS) des amtierenden Premierministers Kostunica setzen sie auf einen Schulterschluß zwischen Belgrad und Moskau.

Und so hofieren die EU und Russland derzeit nach Kräften die serbische Regierung. Derzeit ist das besonders eindrucksvoll in der Ölbranche zu beobachten. Gazprom, Russlands Staat im Staate, möchte den serbischen Ölkonzern NiS kaufen, eine neue Erdgaspipeline von Russland über Bulgarien und Serbien nach Westeuropa legen und damit Serbien in sein Energieimperium eingliedern. Das alles zu Dumping-Preisen, gewissermaßen als Belgrader Gegenleistung für Moskaus Unterstützung in der Kosovo-Frage.
Konkurrenz kommt nun aus dem Westen. Mehrere europäische Unternehmen wollen offenbar höher bieten als Gazprom. Und die EU winkt mit dem Stabilisierungs-und Assoziierungsabkommen (SAA) – und sieht derzeit gnädig darüber hinweg, dass Serbien immer noch nicht Ratko Mladic an das UN-Jugoslawien-Tribunal ausgeliefert hat.

Was bei den Bürgern in Serbien stärker zieht, wird sich spätestens nach dem zweiten Wahlgang Anfang Februar abzeichnen. Tadic oder Nikolic? Letzterer hat sich in diesem Wahlkampf angeblich die Dienste einer amerikanischen PR-Firma gesichert, die schon das Image von Bill Clinton und George W. Bush aufpoliert haben soll. Merke: Auch Ultra-Rechte schreien national und denken global.

 

Abschied vom „Pulverfass“

Zum Jahresende ein kurzes Resümee vom Balkan, Europas vielbeschworenem Sorgenkind. Eine der beliebtesten Metaphern von uns Journalisten war im Jahr 2007 das „Pulverfass Kosovo“. Wann „explodiert“ es? Kommt der „nächste „Balkankrieg“? Platz zwei unter den Top-Klischees: das „zerstrittene Europa“, auch genannt „zaudernde EU“ oder „europäischer Hühnerhaufen“. Knapp abgeschlagen auf Platz drei: Das Kosovo als „Ministaat der Mafiaclans“.

Fangen wir von hinten an: das ewige, Unheil kündende Geschrei vom Kosovo als Oase der kriminellen Großfamilie nervt, um es einmal salopp auszudrücken. Ja, es gibt im Kosovo organisierte Kriminalität und Korruption, und die Kosovaren selbst sind die Ersten, denen deswegen der Kragen platzt. Aber diese Probleme sind kein naturgesetzlicher Zustand, sondern klassisches Phänomen einer Nachkriegsgesellschaft. Soll heißen, man kann sie bekämpfen.

Was den „Familienclan“ betrifft, der unter der Fuchtel eines finster dreinblickenden Patriarchen steht: Clans und Patriarchen sind, wie so vieles in einer Nachkriegsgesellschaft, auch nicht mehr das, was sie mal waren. Sie sind konfrontiert mit einer städtischen jungen Generation, deren Frauen traditionelle Strukturen in Frage stellen; mit einer Diaspora, die aus dem europäischen Ausland andere Lebensvorstellungen nach Hause bringen.

Kommen wir zum Klischee vom zaudernden, unfähigen Europa, dass sich auf dem Balkan immer wieder blamiert habe: Die EU hat sich während des blutigen Zerfalls Jugoslawiens wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. Aber inzwischen hat man in Brüssel gelernt. Die Taktik Russlands, durch seine Blockade-Haltung in der Kosovo-Frage die EU zu spalten, hat offenbar das Gegenteil bewirkt. Es gibt zwar nach wie vor erklärte Gegner einer einseitigen Unabhängigkeit des Kosovo – vor allem sind das die Slowakei, Rumänien und Zypern – doch werden diese Länder nicht die geplante Mission blockieren, mit der die EU das UN-Protektorat ablösen und den Weg des Kosovo in die volle Unabhängigkeit „überwachen“ wird. 1:0 für Brüssel lautet das Zwischenergebnis in diesem Dauerclinch mit Moskau.

Und weil wir gerade bei den guten Nachrichten sind: sechs Jahre nach Ende der Balkan-Kriege haben alle Nachfolgeländer des ehemaligen Jugoslawiens ein Stabilisierungs-und Assoziierungsabkommen mit der EU unterschrieben oder ausgehandelt. Mag ja sein, dass das nicht hübsch anzusehen ist: in Serbien drohen weiterhin nationalistische Rückfälle. Bosnien ist immer noch mehr multiethnischer Boxring denn funktionierender Staat. In Kroatien steht eine ehrliche Auseinandersetzung mit den eigenen Kriegsverbrechern noch aus (wie überhaupt in allen Ländern des ehemaligen Jugoslawien). Aber wer hätte Mitte der neunziger Jahre geglaubt, dass aus dem Trümmerhaufen der Jugoslawienkriege ein europäischer Erweiterungsprozess würde?

Womit man beim „Pulverfass Balkan“ angelangt wäre: das „Pulverfass“ gehört in den Papierkorb. Die Behauptung, auf die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo folge der nächste Krieg, war und ist Panikmache. Weder Pristina noch Belgrad haben das Interesse oder die Ressourcen für einen neuen militärischen Konflikt – nicht zuletzt, weil sowohl Kosovaren wie Serben auf die europäische Perspektive hoffen.

Die Rhetorik mancher serbischer Politiker hört sich zweifellos anders an. Der amtierende Premierminister Kostunica droht gern damit, sein Land an Moskau anzubinden, falls ihm Europa und die USA das Kosovo „rauben“. Aber die Drohung wirkt leer, wenn man sieht, was Russland bislang bietet: viel Beschwörung der slawischen Bruderschaft und ein paar Wirtschaftsdeals im Energiesektor. Da leuchtet Brüssel doch etwas heller.

Nicht, dass damit alle Sorgen in der Region beseitigt wären. Für das serbisch dominierte Nordkosovo, das sich einer Unabhängigkeit widersetzen wird, muss eine Lösung gefunden werden. Im Gespräch ist derzeit eine neue Mini-UN-Verwaltung. In Serbien ist es, wie gesagt, denkbar, dass aus radikaler Kränkung über den Verlust des Kosovo (genauer gesagt: des damit verbundenen Mythos) der Kandidat der „Radikalen Partei“ im Januar zum Präsidenten gewählt wird. Ganz zu schweigen von den unzähligen Alltagsproblemen des Balkan wie Arbeitslosigkeit und marode Infrastruktur.

Aber für den Moment sieht es sehr viel besser aus, als noch vor wenigen Jahren zu erwarten war. Mit den verbleibenden Problemen und Krisen beschäftigen wir uns dann im nächsten Jahr.