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Government 2.0: Eine wiederkehrende Vision

 

Tim O‘ Reilly gilt als geistiger Vater des Mitmach-Internets, auf ihn geht die Formel vom Web 2.0 zurück. Jetzt propagiert er die Mitmach-Politik 2.0. Moderne Technik wird mehr Basisdemokratie ermöglichen, ist er überzeugt.

Allerdings hat er dabei so einiges vergessen, nicht zuletzt den Bürger selbst. Der sich weder durch Hunderte von Gesetzestexten wälzen will, noch in der Lage ist, sich mit vielen unterschiedlichen Themen auf dem Niveau eines professionellen Politikers zu befassen. Zudem übersieht O‘ Reilly, dass die vermeintlichen Visionen so neu gar nicht sind.

Mit Government 2.0 beschreibt er den Ansatz, das gesamte Wissen von Regierung und der Verwaltung anzuzapfen, um es der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Die These: Haben die Bürger erst Zugang zu allen verfügbaren Informationen, und sind erst die Schnittstellen zum Regierungswissen eingerichtet, dann kann der Bürger auch direkt mitregieren. Government stellt die Plattform, die den Nutzer technisch in die Lage versetzt, Teil der Entscheidungsprozesse zu werden. Als erstes konkretes Beispiel für diese Entwicklung steht data.gov. Die US-Regierungsplattform beruht auf dem großen Engagement der Bürger selbst.

O’Reilly gehört zu einer größeren Gruppe prominenter Fürsprecher, die basisdemokratische Möglichkeiten des Internets nutzen wollen, um die klassischen, politischen Strukturen aufzubrechen, darunter auch Cory Doctorow, Clay Shirky, Lawrence Lessig.

O’Reilly legt in seiner Definition von Government 2.0 großen Wert darauf, dass er nicht von der Nutzung technischer Werkzeuge durch Regierung und Regierungsorganisationen als PR- und Wahlkampfsinstrument spricht. Das ganze hat auch nichts mit der Digitalisierung von Verwaltungsaufgaben zu tun, die normalerweise unter dem Namen eGovernment firmieren. Es geht vielmehr um neue Kommunikationswege und die Transparenz von Informationen.

Er setzt sich vor allem mit der Frage auseinander, welche Auswirkungen das Konzept von Schwarmintelligenz und Cloudcomputing auf Staaten und deren Regierungsformen haben kann. Einfach gesagt und schon hundert mal gehört: „The Internet as (nearly) perfect mechanism for bringing people together for collective action“ – Das Internet als (fast) perfekter Mechanismus, um Leute zu gemeinsamen Aktionen zusammenzubringen.

O’Reillys Idealismus vermag mitzureißen, wirft aber trotz seiner guten Beispiele auch Fragen nach der Machbarkeit auf.

Außerdem fragt man sich: Hatten wir das nicht schon? Bereits Anfang der 1990er Jahre gab es mit dem Konzept der Cyberdemokratie eine ganz ähnliche Vorstellung von direkter Demokratie über elektronische Kanäle. 1997 fasste der Autor Rainer Rilling das Konzept in dem Beitrag „Auf dem Weg zur Cyberdemokratie“ das Ziel dieses Konzepts wie folgt zusammen: „Direkte Demokratie, Dezentralisierung, Erweiterung des Einflusses von Individuen und kleinen Gruppen, Abbau von Hierarchien und Massenorganisationen, leichter Zugang zu und Veröffentlichung von Information, weltweite Kommunikation, kurz: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sollen mit den Netzen einhergehen.“

Schon damals versprach man sich von den Kommunikationsoptionen des Internets eine ungebremste Evolution des öffentlichen Raums direktdemokratischen Zuschnitts. Parteien und Verbände, so prognostizierten die Befürworter, würden in diesem Zusammenhang zunehmend überflüssig: Jeder einzelne könne und werde sich in der Cyberdemokratie direkt in den politischen Prozess einschalten, so jedenfalls die Theorie.

In der Praxis wurde die These, dass das Netz unmittelbar zu neuem basisdemokratischen Aktivismus motiviere (Mobilisierungsthese), bisher eher widerlegt als belegt.

Dennoch müssen offene Plattformen, freier Zugang zu staatlichen Informationen, Transparenz und Informationsfreiheit elementare Bestandteile zukünftiger Netzpolitik sein. Sie sind Grundvoraussetzung für eine liberale Netzgesellschaft. Der falsche Weg wäre allerdings, sich dabei allein auf das Netz als abgeschlossenen, politischen Raum zu konzentrieren.

Daher muss sich Netzpolitik erst einmal fragen lassen, inwiefern die neuen digitalen, politischen Räume überhaupt in der Lage sind, die klassischen Strukturen der Politik so zu ändern, dass neue Entscheidungssituationen entstehen können.

Hat der Bürger im Netz überhaupt ein Interesse daran, direkt politisch Einfluss zu nehmen? Bedingt die Vision nicht erstmal die Revitalisierung der Öffentlichkeit à la Demokratie 2.0? Diese und andere Fragen wurde schon 1997 vernachlässigt und werden bisher auch bei dem Ansatz von Government 2.0 erstmal getrost ignoriert.