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Eine Intervention voller Widersprüche

 

Die Nachrichten aus Libyen überschlagen sich. Bengasi verteidigt, Adschabija, Marsa Brega eingenommen, Sirte umkämpft. Nach Tripolis sollen es die Rebellen nicht mehr weit haben. Eine fiebrige Atemlosigkeit liegt in der Luft. Zeit, ein paar Fragen über den Krieg zu stellen.

Ist die Intervention von der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates noch gedeckt?

Die Antwort ist: Nein. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschloss am 17. März die Einrichtung einer Flugverbotszone über Libyen. Der Einsatz der Nato – Briten und Franzosen vorneweg – geht längst darüber hinaus. Die westlichen Kampfflugzeuge haben nicht nur die Luftwaffe von Muammar al-Gadhafi ausgeschaltet. Sie bombardieren Panzer, Artillerie und anderes militärisches Gerät des Diktators. Ein Indiz für die gewandelte Ausrichtung des Einsatzes ist das eingesetzte Gerät: Die Amerikaner sind inzwischen auch mit tieffliegenden A-130-Bombern unterwegs, Flugzeuge, die dafür da sind, feindliche Stellungen zu beschießen. Zahlen über Opfer dieser Angriffe gibt es nicht. Mit den Bombardements wird der Vormarsch der Rebellen ermöglicht. Oder anders gesagt: Die Rebellen haben sich eine mächtige Luftwaffe zugelegt, die ihren Interessen dient.

Diese Konstellation kennen wir aus dem Afghanistan-Krieg. Die USA bombardierten zu Beginn des Einsatzes die Taliban – in ihrer Mehrheit Paschtunen – aus der Luft, während die von den Tadschiken dominierte Nordallianz am Boden Richtung Kabul vorrückte.

Ist die Einhaltung der UN-Resolution wichtig? Ist es nicht entscheidend, dass der Einsatz des Westens einen schlimmen Diktator zu Fall bringt?

Da die Interventionsmächte die Resolution des Sicherheitsrates eigenmächtig erweitern, verliert der gesamte Einsatz rechtliche wie moralische Legitimität. Solange „Siegesmeldungen“ von der Front alles übertönen, wird das keine große Rolle spielen. Aber sobald sich der Nebel des Krieges verflüchtigt, können die Interventionsmächte wegen ihrer Eigenmächtigkeit schnell in die Kritik geraten. Vor allem von Seiten der Arabischen Liga, die sich zwar grundsätzlich für eine Flugverbotszone ausgesprochen hat, sich an ihrer Durchsetzung aber so gut wie nicht beteiligt. Immerhin bomben in erster Linie Briten und Franzosen, die alten Kolonialmächte, die in dieser Region schon viel Unheil angerichtet haben.

Doch die eigenwillige Auslegung der Resolution 1973 durch die Interventionsmächte kann auch noch gravierende politische und militärische Folgen haben. Ein Vergleich mit Afghanistan ist hier ebenfalls erhellend.

Als die Taliban unter dem Druck amerikanischer Bomben Kabul im Herbst 2001 über Nacht verließen, warnte George W. Bush die Nordallianz öffentlich ausdrücklich davor, schnell in Kabul einzumarschieren. Man wollte vorher mit den Paschtunen, die eine Einnahme Kabuls durch die Nordallianz mit Argwohn sahen, eine Verständigung herbeiführen. Die von den Tadschiken dominierte Nordallianz kümmerte sich jedoch nicht um Bush. Er hatte ihnen den Weg freigebombt. Die USA hatten ihre Schuldigkeit getan. Die Milizionäre der Nordallianz eilten nach Kabul und besetzten alle wichtigen Stellen des Staates. Viele Paschtunen trieb das in die Arme der Taliban — zumindest aber in Opposition zu dem neuen, befreiten Afghanistan.

Was passiert, wenn Tripolis wie Kabul schnellt fällt?

Libyen hat kaum funktionierende staatliche Institutionen. Nach Beendigung der Kriegshandlungen werden die Menschen in Libyen vor allem Sicherheit wollen und brauchen. Die kann nur von einer funktionierenden Polizei und einer schlagkräftigen Armee kommen. Wer soll die aufbauen? Die Libyer alleine werden dazu nicht in der Lage sein. Sie werden Hilfe brauchen. Sie wird aus dem Westen kommen müssen. Denn wie soll man erklären, dass man zwar geholfen hat Gadhafi wegzubomben, aber danach nicht mithelfen will, Libyen halbwegs sicher zu machen.

Bald werden die westlichen Regierungen also vor der Frage stehen, ob sie Soldaten und Polizisten als Ausbilder nach Libyen schicken sollen. So, wie sie es in Afghanistan taten, wo es ebenfalls kaum Staat gab, wenn auch aus anderen Gründen. In Afghanistan begann der Einsatz mit wenigen Tausend Mann, heute stehen dort 140.000 Soldaten. Für private Sicherheitsfirmen eröffnen sich jedenfalls riesige Geschäftsmöglichkeiten. Libyen bezieht Milliarden aus dem Ölgeschäft. So, wie Gadhafi Söldner mit diesem Geld bezahlte, werden auch die Repräsentanten des neuen Libyens Geld für die Sicherheit ausgeben — nur hoffentlich für einen anderen Zweck, also für den Aufbau ziviler Institutionen oder die Ausbildung von Polizisten.

Was ist das Kriegsziel der USA?

US-Präsident Barack Obama hat neun Tage nach Beginn der Kriegshandlungen versucht, in einer Rede die Kriegsziele der USA zum umreißen. Wirklich gelungen ist ihm das nicht. Die Intervention bleibt voller Widersprüche. Die Interventionsmächte bombardieren zwar Gadhafis Truppen, doch dessen Sturz streben sie nicht an. Man will die Libyer vor der Rache des Diktators schützen, aber sie von ihm befreien will man nicht – jedenfalls nicht offiziell. Das sollen die Rebellen selber besorgen, aber freilich können sie das nur mit westlichen Kampfbombern.

Die Zurückhaltung Obamas ist verständlich. Die USA haben zwei Kriege am Hals. Kriege, die ganz entscheidend für den Schuldenberg der USA von 14 Billionen Dollar verantwortlich sind. Doch im Ergebnis bedeutet es, dass Obama die USA in eine sehr ungewohnte Rolle bringen wird. Nicht als bestimmende Macht sollen sie handeln, sondern als eine Macht unter mehreren. Die USA sind in Libyen ein „Ermöglicher“ kein „Entscheider“. Das werden viele Amerikaner nicht akzeptieren. Außerdem blieb Obama eine Antwort schuldig: Liegt Libyen im nationalen Interesse der USA oder nicht?

Was sind die Kriegsziele der Europäer?

Obamas Bescheidenheit hat eine Ergebnis: Die Europäer müssen an die Front. Dem Franzosen Nicolas Sarkozy kommt das gerade recht, denn er ist auf der Suche nach einem Erfolg. In Brüssel sagte er in Bezug auf Libyen: „Jeder Herrscher muss verstehen, und vor allem jeder arabische Herrscher muss verstehen, dass die Reaktion der internationalen Gemeinschaft und Europas von nun an jedes Mal die gleiche sein wird“.

Heißt das nun, dass die Europäer auch in Saudi-Arabien, in Syrien, im Jemen, in Algerien intervenieren wollen? Überall dort, wo Menschen gegen ein autokratisches Regime auf die Straße gehen? Ist dieser neue Interventionismus die Position der Europäischen Union? Vermutlich nicht. Aber was ist dann die Position der EU? Welches Ziel hat sie sich für Libyen gesetzt? Sicher ist nur, dass trotz der starken Worte Sarkozys Frankreich allein nicht einmal die militärischen Kapazitäten hat, Libyen zu befrieden.