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Zivilisten schützen

 

Libyens Rebellen stehen möglicherweise nicht mehr allzu weit vor ihrem Sieg über das Gadhafi-Regime. Höchste Zeit darüber nachzudenken, wie denn dieser Sieg aussehen und was er für Libyen bringen könnte. Dafür gibt es zweierlei Szenarien. Das eine ist das „westliche Szenario“: Dieses sieht vor, dass die Rebellen Gadhafi besiegen und danach Demokratie und Rechtsstaat in Libyen aufbauen – zum ersten Mal in der Geschichte des Landes. Das zweite Szenario ist, dass Libyen in einer Spirale von Gewalt und Gegengewalt abdriftet, in eine Art von Stammeskrieg.

Die Nato muss freilich darauf hoffen, dass es nach einem Sieg gegen Gadhafi zu keinerlei größeren Racheakten kommt. Denn ihre Intervention ist auf dem Papier humanitär begründet. Das bedeutet: Die Nato bombardiert Ziele in Libyen um libysche Zivilisten zu schützen. Was aber wird sie tun, wenn die Seite, die sie in diesem Krieg unterstützt, sich an den Feinden rächt? Schon jetzt gibt es eine ganze Reihe von Racheakten an Anhängern Gadhafis oder an solchen, die man dafür hält.

Im Westen des Landes, in den Bergen zur tunesischen Grenze, haben die Rebellen mehrere Dörfer entvölkert und geplündert – weil ihre Bewohner angeblich Gadhafi stützten. Es gibt auch aus der Gegend um Misrata Nachrichten von Übergriffen der Rebellen. Die Nato leugnet das nicht. Doch glaubt sie, dass der Übergangsrat der Rebellen schnell dagegen vorgehen will und wird.

Freilich, die Nato darf nichts anderes glauben. Denn was passiert, wenn es zu mehr Racheakten kommt? Dann müsste die Nato wirksam dagegen einschreiten. Doch das wird sie nicht können, weil sie dazu weder die Kraft noch den Willen hat.

Es gibt dafür ein gutes Beispiel aus der jüngeren Geschichte. Die Nato intervenierte 1999 in Jugoslawien zu Gunsten der Kosovaren und gegen die serbische Armee. Auch damals tat sie es aus humanitären Gründen – allerdings fehlte ihr im Unterschied zu Libyen ein Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Als die serbische Armee sich schließlich aus dem Kosovo zurückzog, vertrieben die Kosovaren sofort rund 100.000 Serben – unter den wachsamen Augen der Nato. Die humanitäre Intervention wurde dadurch ad absurdum geführt.

Libyen ist nicht Kosovo, gewiss. Doch herrscht eine ähnliche Logik. Die Nato sagt zwar, sie interveniere aus humanitären Gründen, doch schützt sie nicht alle Zivilisten in dem betreffenden Land auf gleiche Weise. Sie beschützt nur die, welche zufällig oder weniger zufällig auf der richtigen Seite stehen. Man könnte einwenden: So ist es nun mal im Krieg! Eine schmutzige Sache! Moralische einwandfreie Kriege gibt es nicht! Doch dann müssten man auch anerkennen, dass humanitäres Bomben ein Widerspruch in sich ist.