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Nach dem Despoten-Sturz

 

Rebellen in den Straßen von Tripolis (c) FILIPPO MONTEFORTE/AFP/Getty Images
Rebellen in den Straßen von Tripolis (c) FILIPPO MONTEFORTE/AFP/Getty Images

Das libysche Volk feiert die wohl endgültige Niederlage des Diktators Muammar al-Gadhafi. Es beginnt eine neue Ära in der Geschichte Libyens. Die Herausforderung ist gewaltig. Ein Land ohne demokratische Tradition soll in eine Demokratie umgewandelt werden.

Die ersten Schritte dazu werden in diesen Tagen des Sieges gelegt. Der Übergangsrat der Rebellen hat dazu aufgerufen, sich nicht an Gadhafis Anhängern zu rächen, sondern Mäßigung und Zurückhaltung zu üben. Der Aufruf ist nötig und kommt zur rechten Zeit. Je nachdem, wie sehr sich die Bevölkerung daran hält, werden wir erkennen können, wie stark die Autorität des Übergangsrates ist.

Blutige Rache wäre ein Geburtsfehler, der das neue Libyen auf Dauer belastet. Sie könnte das Land in einen lange schwelenden Konflikt zwischen den Stämmen hineinziehen. Käme es dazu, hätte sich Europa einen dauerhaft instabilen Nachbarn am Mittelmeer eingehandelt. In diesem Fall würde sich irgendwann für die Europäer auch die Frage stellen, ob und wie man in ein solches, zerfallendes Libyen intervenieren müsste. Das ist ein Szenario, vor dem sich die westlichen Regierungen fürchten, denn sie haben weder die Kraft, den Willen noch das Geld für Intervention und Wiederaufbau in Libyen.

Das optimistischere Szenario ist das einer relativ schnellen Stabilisierung Libyens. Dafür gibt es einige gute Gründe. Trotz der für viele überraschend langen Dauer des Konfliktes – sechs Monate –  kam der Sieg nun doch schnell. Dabei ist es entscheidend, dass die Bewohner von Tripolis sich offensichtlich nicht gegen die Rebellen gewehrt haben. Im Gegenteil – nach allem, was man weiß – sind sie zu den Rebellen übergelaufen oder haben sogar aktiv am Kampf teilgenommen. Damit hat Tripolis seine eigene Befreiungsgeschichte.

Bengasi und Misrata sind nicht mehr die einzigen Städte, die sich als „Heldenstädte“ in die  Geschichte des neuen Libyen einschreiben können.  Der Westen (Tripolitanien) und der Osten (Cyrenaica) des Landes treten gewissermaßen durch das Tor, das in die Zukunft Libyens führt. Kein Landesteil hat den anderen unterworfen. Das ist eine wichtige Voraussetzung für eine nationale Versöhnung.

Libyen ist zwar flächenmäßig ein riesiges Land, doch hat es gerade mal etwas mehr als sechs Millionen Einwohner.  Gleichzeitig verfügt es über große Öl- und Gasreserven. Und schließlich ist es eine direkter Nachbar Europas. Diese Kombination – zahlenmäßig kleiner, aber reicher Nachbar – macht es gewiss leichter, das Land stabil zu halten. Wenn die inneren Voraussetzungen geschaffen werden, das heißt: wenn die Versöhnung gelingt, kann eine kluge Politik Europas von außen Libyen einen zusätzlichen, festen Rahmen geben. Dafür braucht es gleichzeitig Zurückhaltung und Entschiedenheit.

Zurückhaltung bedeutet: Der Westen darf nicht den Eindruck erwecken, als wolle es sich in die inneren Angelegenheiten Libyens vor allem einmischen, um sich den Zugang zu den Ressourcen zu sichern. Entschiedenheit bedeutet: Der Westen muss darauf drängen, dass es schnell zu einer Versöhnung kommt. Der erste Konflikt zwischen dem Westen und dem neuen Libyen ist aber schon auf dem Tisch.

Gadhafi, sein Sohn Saif al-Islam und Gadhafis Schwager, Geheimdienstchef Abdullah Senussi, sind vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Nun haben die Rebellen drei Söhne Gadhafis festgenommen. Der Übergangsrat hat angekündigt, ihnen in Libyen den Prozess machen zu wollen. Der Internationale Strafgerichtshof wird aber auf der Auslieferung beharren.