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Das Dilemma der Außenpolitik

 

Die Nato hat in Libyen interveniert, um auf der Grundlage der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates Zivilisten zu schützen. Das ist die offizielle Geschichte. Tatsächlich haben Frankreich, Großbritannien und die USA in Libyen eingegriffen, um einen Diktator aus dem Weg zu räumen. Die Intervention folgte einem bekannten Muster. Zuerst richtet man eine Flugverbotszone ein, um „die Bewohner von Bengasi“ vor der Rache Gadhafis zu schützen. Bald wurde daraus eine Bombenkampagne, „um Zivilisten zu schützen“. Dann bombardierte man Gadhafis Hauptquartier, weil es „ohne den Sturz des Diktators“ nicht möglich sei, die „Zivilisten zu schützen“.

Es hieß immer, es würde keine Besatzungstruppen der Nato in Libyen geben, die Resolution 1973 verbietet das ausdrücklich. Die britische Regierung hat inzwischen eingestanden, dass Einheiten der Elitetruppe SAS seit Wochen vor Ort operieren. Ihr Einsatz war entscheidend für den am Ende schnellen Fall von Tripolis. Man kann sie nicht als Besatzungstruppen bezeichnen. Doch die Tatsache, dass jetzt Spezialeinheiten, wie die britische Times berichtet, als Zivilisten verkleidet Jagd auf Gadhafi und seine Anhänger machen, ist wohl schwer mit der Resolution vereinbar – oder mit anderen möglichen völkerrechtlichen Grundlagen.

Wir wissen, dass Frankreich Waffen geliefert hat. Außerdem hat die Nato nach Berichten von Korrespondenten in Libyen eine provisorische Flugpiste eingerichtet. Nun ist die Rede davon, dass Truppen vor Ort nötig sein könnten, um die Ordnung zu bewahren. Wir kennen diese Geschichte – aus Afghanistan, aus dem Irak, aus dem Kosovo. Es begann alles mit kleinen Schritten, um Zivilisten zu schützen. Sehr schnell scherte sich niemand mehr um völkerrechtliche  Grundlagen. Das Resultat war ein jahrelanges militärisches, politisches und finanzielles Engagement.

Libyen ist nicht Afghanistan und es ist nicht Irak. Das Land hat eine kleine Bevölkerung, es ist reich und es liegt in der Nachbarschaft zu Europa. Die Chancen auf eine Stabilisierung sind sehr viel höher als in Afghanistan. Doch es gibt eine unvermeidliche, gefährliche Gemeinsamkeit zwischen Afghanistan, Irak und Libyen. Die Interventionsmächte sind auf Gedeih und Verderb den Kräften im Land ausgeliefert. Frankreich, Großbritannien und die USA haben nach dem Fall von Tripolis wohlweislich nicht öffentlich triumphiert – die Botschaft mission accomplished wollen sie nicht geben. Nur zu gut erinnern sie sich an George W. Bush, der im Mai 2003 mit dieser Botschaft auf einem Flugzeugträger landete und den Krieg im Irak für beendet erklärte – doch der richtige Krieg kam erst und forderte Zehntausende Menschenleben.

Die Interventionsmächte sind also vorsichtig. Das ist klug, aber es wird sie von einem Dilemma nicht befreien: der Abhängigkeit vom libyschen Übergangsrat (TNC). Es ist zu hoffen, dass der TNC die Lage in den Griff bekommt. Doch es ist auch klar, dass es sich bei dem TNC um einen zusammengewürfelten Haufen handelt. Nach 42 Jahren Diktatur ist keine konsistente Opposition zu erwarten. Aber genau eine solche Opposition ist nötig, wenn die Nato nicht tiefer in den libyschen Konflikt hineingezogen werden soll. Was ist, wenn es dem Übergangsrat in Libyen nicht gelingt, Stabilität herzustellen? Wird man dann zuschauen können, wie Libyen in einem schwelenden Krieg versinkt? Was wird man tun, wenn dieses instabile Libyen zu einem Hort von Terroristen wird, so wie Afghanistan in den neunziger Jahren? Diese Fragen sind beunruhigend. Denn eines ist klar: Die Interventionsmächte können Libyen jetzt nicht mehr allein lassen.

Ohne Intervention hätte Gadhafi viele Zivilisten im Bengasi umgebracht. Das steht außer Zweifel. Es ist möglich, dass er den Volksaufstand gegen ihn erfolgreich unterdrückt hätte, möglich ist aber auch, dass es ihm auf Dauer nicht gelungen wäre. Die Wahrheit ist: Wir wissen es nicht. Wenn die Intervention aber mit dem „Schutz von Zivilisten“ begründet wird, dann muss man sich auch die Frage stellen, wie viele Zivilisten durch die Intervention ums Leben gekommen sind und wie viele noch sterben werden.

Das hat nichts mit Zynismus zu tun. Wenn Intervention mit dem moralischen Imperativ gerechtfertigt wird, muss man diese Frage stellen: Wie viele Menschen sind durch die Intervention ums Leben gekommen?  Zu den Opfern der Intervention gehören zum Beispiel auch jene dreißig Gadhafi-Soldaten, die in Tripolis auf einer Straßenkreuzung erschossen worden sind – obwohl sie sich offenbar schon ergeben hatten. „Zuschauen oder sich schuldig machen!“ – eine allein moralisch verstandene Außenpolitik stellte uns angesichts des Volksaufstandes in Libyen vor dieses Dilemma. Das Ergebnis dieser Moral ist: „Wir müssen töten Libyer, um Libyer zu befreien.“

Entscheidender aber ist, dass die Interventionsmächte jetzt die Patenschaft für ein Land übernehmen. Der Aufstand gegen Gadhafi ist gewiss ein historischer Moment. Die Libyer haben todesmutig um ihre Befreiung gekämpft. Doch das neue Libyen ist nicht mehr allein das Libyen der Libyer. Durch die Intervention ist Libyen auch das Libyen der Interventionsmächte geworden, so wie Afghanistan das Afghanistan des Westens wurde, so wie Irak der Irak der Amerikaner wurde – mit allen Konsequenzen