Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Abschied von einem Krisengebiet

 

In Pakistan sind fünf Millionen Menschen vor der Monsunflut auf der Flucht, in Kabul attackieren die Taliban 20 Stunden lang das Diplomatenviertel im Zentrum der Stadt. Wenn auch auf den ersten Blick nicht ersichtlich, bestehen zwischen beiden Ereignissen Zusammenhänge. Nicht nur, dass beide Länder heute vom Westen als eine Krisenregion – Afpak – vereint worden sind. Wichtiger im Moment ist der Zusammenhang des Vergessens.

Das lässt sich an der Gewichtung und Interpretation dieser beiden Ereignisse erkennen. Die Flut in Pakistan schafft es kaum in die Schlagzeilen. Dabei ist sie nicht nur eine humanitäre Katastrophe. Sie ist auch eine politische. Denn ein ohnehin fragiles Land wird erneut auf eine harte Probe gestellt. Die letzte Flut liegt nicht einmal ein Jahr zurück. Damals mussten 20 Millionen Menschen ihre Häuser verlassen. Die Zeitungen waren voller Geschichten darüber.

Eine bange Frage wurde dabei immer wieder gestellt: Wenn wir, sprich der Westen, nicht helfen, dann tun es die Taliban. Dann, so hieß es weiter, würden sie noch mehr Sympathisanten in Pakistan gewinnen. Das Land rutschte noch weiter an den Abgrund heran. Das ist eine verquere Logik, denn sie unterstellt, dass jemand, der sich in der Not von den Taliban helfen lässt, automatisch die politischen Ziele der Taliban unterstützt.

So seltsam das Argument von der Talibanisierung durch die Flut war, so hatte sie doch ihr Gutes: Die Flut wurde als politische Herausforderung verstanden. Davon ist heute nicht mehr die Rede. Wenn, dann findet eine solche Debatte in einem unbeachteten Winkel der Öffentlichkeit statt. Flut in Pakistan? Nein, wir haben andere Sorgen.

Der Angriff von Kabul erfuhr zwar größere mediale Aufmerksamkeit, doch die Reaktionen darauf sind verblüffend. Da kämpfen Taliban im Herzen der afghanischen Hauptstadt in Kabul 20 Stunden lang mit den Sicherheitskräften, beschießen die US–Botschaft und das Hauptquartier der Nato, und was hören wir von der Nato? Eine „lästige“ Sache sei das, ganz gewiss, aber eine Bedrohung der Sicherheit sei das nicht. Alles unter Kontrolle! Das ist eine bewusste Verdrängung der Wirklichkeit. Denn einen Angriff wie diesen hat es in Kabul seit den achtziger Jahren, den Jahren des Bürgerkrieges, nicht gegeben. Die Reaktion der Nato zeigt nur eines: Sie will raus aus Afghanistan.

Der Abzug der Nato-Soldaten ist nach zehn Jahren Einsatz geboten. Er ist unvermeidlich. Doch das bedeutet nicht, dass man sich von der Region völlig loslösen muss. Der Westen hat dort nach wie vor strategische Interessen. US-Präsident Barack Obama hatte mit der Formel Afpak die gesamte Region bereits in das Zentrum westlicher Außen- und Sicherheitspolitik gerückt.

Doch das, was jetzt gerade stattfindet, ist die mentale Abkoppelung des Westens aus dem Krisengebiet. Zehn Jahre nach dem 11. September heißt es: Der Spuk ist vorbei. Die Seiten in diesem Geschichtsbuch werden umgeschlagen. Afpak? Wer weiß noch, was das bedeuten sollte? Dabei ist der Schrecken nicht vorbei, im Gegenteil, er erreicht gerade einen neuen Höhepunkt: in Afghanistan und in Pakistan.