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Fehler eingestehen, Vorurteile revidieren

 

Die Taliban greifen das Botschaftsviertel in Kabul an. In Pakistan befreien sie Hunderte ihrer Kameraden aus einem Gefängnis. In verschiedenen Teilen des Landes flammen Kämpfe auf. Die Frühjahrsoffensive der Taliban hat begonnen, und es sieht nicht gut aus für das Nato-geführte Militärbündnis.

Spätestens 2014 will die Nato Afghanistan verlassen haben. Und dabei stellt sich nicht mehr die Frage, ob sie ihre Ziele erreichen wird. Es geht schon lange nicht mehr um Demokratie, Rechtsstaat, Staatsaufbau — es geht nur mehr um die Frage, ob Afghanistan nach einem Abzug dem Westen ganz verloren gehen wird. Ganz verloren, das hieße, keine Truppen mehr im Land, keine Freunde mehr unter den Menschen, keinen Einfluss in Kabul. Afghanistan würde aus dem Machtbereich des Westens herausfallen.

Kein Problem? Oh doch, das wäre ein Problem. Afghanistan grenzt an die ressourcenreichen  Staaten Zentralasiens, es grenzt an den Iran, an China, an Pakistan. Diese geostrategische Lage macht Afghanistan wichtig, auch für den Westen. Und da ist die Gefahr des Terrorismus. Afghanistan könnte sich wieder in eine Heimstatt für Al-Kaida verwandeln. Aus diesen Gründen sollte der Westen zusehen, dass er auch nach 2014 in Afghanistan über Einfluss verfügt.

Wie aber soll das geschehen?

Zunächst einmal, indem man ehrlich ist. Wenn die Nato den Krieg verloren hat, dann aus eigenem Verschulden. Es ist ein viel bedientes Klischee, dass die Afghanen unbezähmbare Krieger seien, die noch nie in ihrer Geschichte besiegt worden sind. Doch mit diesem eingängigen Vorurteil verdeckt man nur die eigenen Fehler. In Wahrheit wollen die Afghanen in ihrer großen Mehrheit teilhaben am Fortschritt. Gewiss auf ihre Art und Weise, doch ihre Sehnsucht nach Frieden, Wohlstand und Gerechtigkeit ist ungebrochen. Vom Krieg haben sie genug.

Die Nato jedoch hat die Friedenssehnsucht der Menschen nicht genutzt, sie war nicht in der Lage, ihr eine Gestalt zu geben. Das aber wäre möglich gewesen, vor allem in den Jahren zwischen 2002 und 2005. Die Afghanen wollten, dass es einen Bruch mit ihrer jüngeren Geschichte gibt. Sie wollten, dass die Kriegsherren entwaffnet und aus dem Verkehr gezogen werden. Nur der Westen hatte in diesen Jahren die Macht, das zu tun. Es ist folgerichtig, dass die Afghanen eben dies von der Nato erwartet haben.

Natürlich hätte man nicht alle Kriegsherren verhaften oder vor Gericht stellen können. Doch wenn man einige der größten von ihnen sichtbar ins Abseits gedrängt hätte — die Afghanen hätten die Botschaft verstanden: Die Zeit für einen Neuanfang ist gekommen.

Doch eben das geschah nicht. Die Kriegsherren ließ man gewähren, weil man meinte, sie brauchen zu müssen im Kampf gegen den Terror. Man glaubte das auch deshalb, weil man gefangen blieb in den Vorurteilen über Afghanistan, nach denen das Land besonders kriegerisch und ungebändigt sei. Ungebändigt, das mag sein, aber nur in Bezug auf den Wunsch, selbst über sein Schicksal bestimmen zu können. Grundsätzlich kriegerisch, das ist Blödsinn.

Wenn also der Westen Einfluss behalten will, dann ist es höchste Zeit sein Bild von Afghanistan und den Afghanen zu revidieren und sich die eigenen Fehler einzugestehen. Dafür ist es nie zu spät. Doch schwer ist es schon, denn es würde deutlich werden, wie blind man zehn Jahre lang war.