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Ein Schein von Staat

 

Lampedusa

In der unsichtbaren Mauer, die durch das Mittelmeer gezogen wird, ist die Insel Lampedusa ein Festungsturm. Armee, Küstenwache, Finanzpolizei, Carabinieri – Italien und Europa zeigen hier den unerwünschten Ankömmlingen ein grimmiges Gesicht. Alles scheint zu sagen: „Wir kümmern uns. Hier herrschen Recht und Gesetz!“ Diese Botschaft ist nicht nur für Lampedusa gedacht. Im Frühjahr 2011 waren mehr als 7.000 Flüchtlinge auf der Insel untergebracht. Die Lampedusaner waren binnen kürzester Zeit zur Minderheit auf ihrer Insel geworden. Hunderte Flüchtlinge brachen aus dem überfüllten Aufnahmelager aus. Es kam zu einer Rebellion. Dabei verbrüderten sich Insulaner und Flüchtlinge. Sie begehrten gemeinsam gegen die Gleichgültigkeit des Staates auf. Die Bilder beschädigten das Image Italiens und gaben den Populisten Nahrung. Überschwemmung, Invasion, menschlicher Tsunami — Europa wird in Lampedusa überrannt. Damit gingen Parteien wie die rechte Lega Nord auf Stimmenfang. Gleichzeitig hob die Klage gegen Brüssel an. Wo war Europa jetzt, da man es dringend brauchte? War Immigration nicht ein gemeinsames Problem? Lampedusa eignete sich zum Schüren antieuropäischer Ressentiments. Italien erschien in jenem Frühjahr überfordert, unfähig und kaltherzig, und Europa war für die Italiener ein leerer, bedeutungsloser Begriff.

Die Italiener werden bei den bevorstehenden Wahlen nicht nur über das weitere Schicksal ihres Landes entscheiden; ihre Entscheidung könnte weitreichende Konsequenzen für ganz Europa haben. Aber wie europäisch ist Italien, das sich nun als Schlüsselland des Kontinents präsentiert? Wie stark, wie modern ist der Staat, der jetzt unter dem Druck der Euro-KriseReformen durchsetzen soll? Wie ausgeprägt sind Bürgersinn und Respekt vor dem Recht, die für eine Reformpolitik nicht weniger wichtig sind als ökonomische Disziplin?

In Lampedusa zeigt der Staat seit dem Frühjahr 2011 jedenfalls Präsenz. Der Priester, der Lokalpolitiker, die Hoteliers, die Restaurantbesitzer, mit wem man hier auch spricht, jeder bestätigt das. Doch überall ist auch tief verwurzeltes Misstrauen spürbar. „Italien“, sagt Lampedusas Bürgermeisterin Giusi Nicolini, „ist für mich auch die Sehnsucht, zu etwas Größerem zu gehören, zu einer demokratischen Gemeinschaft!“ Aber diese Sehnsucht der Bürgermeisterin wird nicht erfüllt. Der Staat bleibt für die Lampedusaner ein fernes Wesen. An seinen Schaltstellen sitzt eine politische Kaste, die in erster Linie mit sich selbst beschäftig ist. Sie hat Uniformierte geschickt, für Notfälle stehen sie bereit. „Immigration ist keine Ausnahmesituation“, sagt Nicolini, „sie ist ein historischer Prozess, der unsere Insel vor fünfzehn Jahre erfasst hat. Immigration ist unser Alltag, und sie wird unser Alltag bleiben.“ Doch das Alltägliche interessiert den italienischen Staat wenig. Meist überlässt er die Bürger sich selbst.

Die Lampedusaner haben sich darin eingerichtet. Sie pflegen die alte italienische Kunst des Sich-Arrangierens. Die Auswirkungen sind verheerend. Lampedusa hat offiziell Unterkünfte für 2.000 Touristen, in Wahrheit finden im Sommer bis zu 40.000 Platz. Die Insel, gerade mal 22 Quadratkilometer groß, ist übersät mit Häusern. Fast alle wurden illegal gebaut. Bis heute hat die Gemeinde keinen Bebauungsplan. Lampedusa ist so klein, dass jedem einleuchten müsste, wie selbstmörderisch das ist.

Zugleich zeigt sich hier eine perverse Symbiose zwischen Bürgern und Regierenden. Die Illegalität ist für Politiker eine gewaltige Stimmenbeschaffungsmaschine. Condono ist der zentrale Begriff: Strafnachlass. Wer gestern noch illegal gebaut hat, dessen Haus wird heute gegen die Zahlung eines meist geringen Bußgeldes legalisiert, dank der von der Regierung erlassenen Strafe. Das bedeutet nicht das Ende der Illegalität. Es wird weiter wild gebaut. Denn der Staat, der in Lampedusa so stark tut, ist in Wahrheit sehr schwach. Er ist nicht willens oder nicht in der Lage, die Gesetze durchzusetzen. Das weiß jeder Bürger, das erlebt er tagein, tagaus — und er zieht daraus seine Konsequenzen. Je mehr Leute illegal bauen, desto wahrscheinlicher ist ein weiterer Strafnachlass. Silvio Berlusconi ist der Politiker, der im Wahlkampf Sündern aller Art Gnade verspricht. Und die Sünder schenken ihm die Stimme, das ist die Geschäftsgrundlage zwischen dem Patron und seinen Klienten.

Lampedusa ist trotz allem keine Piratenhochburg. Auch hier gibt es aufrechte Kämpfer für Recht und Ordnung. Giovanni Fragapane war zehn Jahre lang Bürgermeister, zwischen 1983 und 1993. Er hat ein Buch mit dem Titel Lampedusa geschrieben. 550 Seiten Geschichte hat Fragapane dem schroffen Stein inmitten des Meeres abgerungen. „Einen Beweis meiner Liebe“ nennt er das Buch.

Doch seine Liebe brennt nur mehr im Verborgenen, denn Fragapane hat sich zurückgezogen, enttäuscht von den Institutionen, enttäuscht auch von den Mitbürgern, die sehenden Auges ihre Heimat plündern. Es war nie jemand da, der die Insel vor Gier und Ausbeutung schützte. Auch dieEuropäische Union blieb untätig. Fragapanes Vater war Fischer, ein guter Fischer, wie der Sohn sagt. Er habe es geschafft, auch bei starkem Gegenwind, in den kleinen Hafen von Lampedusa einzulaufen, was nicht jedem gelinge. Er habe Fische und Schwämme in rauen Mengen aus dem Meer geholt. Doch heute sind die Fischgründe leer gefischt, die Schwämme sind seltener geworden, die Preise verfallen. Gegen die Überfischung, sagt Fragapane, gebe es viele Verordnungen aus Brüssel. Doch geholfen hätten sie nicht, sie seien Papierwerk geblieben. Lampedusa ist eine Außengrenze Europas, sie wird „verteidigt“ – und wenn auch nur gegen Flüchtlinge, die auf überfüllten Booten, geschwächt und halb verdurstet, übers Meer kommen. Der Festungsturm Lampedusa soll durch Wehrhaftigkeit abschrecken, doch im Inneren herrschen Gesetzlosigkeit und Schwäche.

Ventotene

Italien ist ein Geburtsland der Europäischen Union, und das hat mit einer winzigen Insel namens Ventotene zu tun. Im Jahr 1941 beugte sich hier ein Gefangener namens Altiero Spinelli über einen grob zusammengezimmerten Tisch und arbeitete sich schreibend durch die europäische Geschichte. Er analysierte die Gründe für den Aufstieg desFaschismus, er beleuchtete die gesellschaftlichen Kräfte, die dafür verantwortlich waren. Er war 34 Jahre alt und saß schon seit vierzehn Jahren im Gefängnis. Als er verhaftet wurde, war er noch Kommunist gewesen, doch vom Kommunismus hatte er sich gelöst. Die Schrecken des Stalinismus der dreißiger Jahre hatten ihn geläutert. Er suchte einen Weg zwischen den Extremen, die Europa zerrissen.

In der Einsamkeit Ventotenes, während Mussolini Italien beherrschte und sein Verbündeter Adolf Hitler fast ganz Europa unterworfen hatte, notierte Spinelli: „Das Problem, das in erster Linie zu lösen ist, ist die definitive Abschaffung der Nationalstaaten. Wenn das nicht gelingt, ist jeder Fortschritt unmöglich.“ Spinelli entwarf eine europäische Ordnung für die Zeit nach der Niederlage von Faschisten und Nazis, die zu diesem Zeitpunkt alles andere als sicher erschien. Das Dokument wurde aus dem Gefängnis geschmuggelt, es zirkulierte unter Partisanen und prägte ihr Bild von einer friedlichen Zukunft. Noch zerfleischten sich die Europäer gegenseitig, doch das würde bald eine Ende haben. Das Rezept für einen ewigen Frieden auf diesem blutgetränkten Kontinent – das war das Versprechen des Manifests von Ventotene. Darin bestand seine revolutionäre Kraft. Europa als Antwort auf Faschismus und Krieg. 1941 wirkte das Manifest von Ventotene noch wie die Vision eines hoffnungslosen Träumers, geschrieben auf einem Eiland, das schon den alten Römern als Insel der Verbannten bekannt war.

Und heute? 700 Einwohner hat Ventotene im Sommer; im Winter ist es nicht einmal die Hälfte. Der Gründungsmythos der EU hat sich in den Körper Ventotenes eingeschrieben: Plaketten, Inschriften, eine Bibliothek, Tagungen, Veranstaltungen — die winzige Insel will sich eine große Identität verleihen. Sie hat ja auch eine Geschichte voller Pathos zu bieten: Europa wurde in der Gefangenschaft geboren. Die Befreiung gelang. Ein Gebäudeflügel des Europäischen Parlaments in Brüssel ist nach Spinelli benannt.

Doch der Mythos hat seine Kraft verloren. Das Pathos wirkt angesichts der gegenwärtigen Lage schal. Rund 30 Prozent der italienischen Jugendlichen sind arbeitslos. Sie leben in einer anderen europäischen Wirklichkeit, die jenseits der wohltönenden Rhetorik über die Europäische Union liegt. Der Bürgermeister von Ventotene, Giuseppe Assenso, lebt genau auf der Grenze, an der Bruchstelle zwischen diesen beiden Welten. Er steht als Lokalpolitiker mittendrin in dem von der Wirtschaftskrise geschüttelten Italien – und gleichzeitig pflegt und poliert er als Bürgermeister Ventotenes die Oberfläche Europas.

Da das Wetter umzuschlagen droht und die nächsten Fähren wahrscheinlich nicht mehr auslaufen können, ist Assenso von Ventotene auf das Festland in die Stadt Formia gekommen, um zu reden. Im bürgerlichen Café Tirreno spricht er in eleganten Worten von seinen europäischen Überzeugungen. Als aber der Name Mario Monti fällt, des europäischsten aller Spitzenkandidaten bei dieser Wahl, sagt er knapp: „Er hat uns nur gepeinigt! Er hat von uns nur genommen und uns nichts gegeben!“ Monti, der Europäer, ist für Assenso eine Fehlbesetzung. Er bevorzugt offenbar einen anderen Kandidaten: Berlusconi, ausgerechnet den Mann, den Europa am meisten fürchtet.

„Berlusconi ist der einzige Kandidat, der den Italienern Hoffnung gibt!“

Aber er macht seit zwanzig Jahren Versprechungen!

„Alle anderen sprechen nur in düsteren Worten über unsere Lage. Er nicht!“

Berlusconi hat ein großes Publikum, das bereit ist, ihm zu glauben. In dem, was Bürgermeister Assenso sagt, drückt sich auch die politische Kultur des Landes aus. Sie ist geprägt von einer weit verbreiteten Vergesslichkeit. Sie hat die Erinnerung an Berlusconis nicht gehaltene Versprechungen verblassen lassen – genauso wie die Erinnerung an die große europäische Tradition Italiens. Diese Amnesie verbindet sich mit dem Glauben, immer irgendwie durchkommen zu können. Mit Geschick, Schläue und Kreativität lässt sich angeblich jedes Schicksal meistern. Auch das hat mit dem abwesenden, schwachen Staat zu tun, der zwar Regeln setzt, aber sie nicht durchsetzen kann und dies vielleicht auch nicht will. Wo der Staat nicht ist, muss sich der Bürger selbst zu helfen wissen. Die Euro-Krise hat den italienischen Staat zum Handeln gezwungen, angeführt von Mario Monti, griff er in Bereiche ein, die normalerweise unbehelligt blieben: die Steuerhinterziehung zum Beispiel. Die Gegenreaktion aus dem „staatsfreien“ Raum ließ nicht auf sich warten: Sie nahm die Gestalt von Silvio Berlusconi an.

Predappio

Im schummrigen Licht der Krypta für den faschistischen Diktator Benito Mussolini knien Pilger, sie sprechen ein Gebet, verharren in Stille und tragen dann in ein dickes Gästebuch, das auf einer italienischen Nationalflagge aufgeschlagen liegt, ihre Gedanken ein. Was bewegt sie? Wenn man die Summe der vielen Einträge zu ziehen versucht, dann ist es der brennende Wunsch nach klaren Verhältnissen, nach jemandem, der aufräumt und den Weg frei macht, damit wieder Großes unternommen werden kann: „Gott gebe uns einen Mussolini, nur für einen Monat!“

Predappio ist seit vielen Jahrzehnten der Wallfahrtsort für Neofaschisten. In einer ganzen Reihe von Geschäften können sich Mussolinis Anhänger mit Devotionalien eindecken. Büsten des Duce sind der Renner. Auch T-Shirts mit aufgedruckten martialischen Sprüchen verkaufen sich gut. Hier kann man in einem Laden mit dem Namen „Ultima Bandiera“ (Die letzte Fahne) die zweite Ehefrau des jüngsten Sohnes von Mussolini treffen und sich von ihr die Vorzüge des leider, leider verstorbenen Duce darlegen lassen; man kann mit ihr am Grab Mussolinis stehen und ihr zusehen, wie sie betet und sich Tränen aus den Augenwinkeln wischt. In der kalten, düsteren Krypta wirkt sie wie ein Gespenst, wie ein Wesen aus einer anderen Zeit.

Doch diese Zeit will nicht vergehen. Als Berlusconi 1994 in die Politik eintrat, lobte er ausdrücklich die neofaschistische Partei. Später bildete er mit ihr eine Koalition. Mussolini ist ein Untoter, der in seinem Geburtsort Predappio und in ganz Italien seit geraumer Zeit umgeht. Neu ist heute der Kontext. Es herrscht die tiefste Krise der europäischen Nachkriegszeit, und, wie es einer in Predappio ausdrückt: „Krisen kennen wir in Italien viele, sie hatten alle ein Ende. Doch diese hier scheint ohne Ausgang!“ Die empfundene Perspektivlosigkeit lähmt die Gedanken und nährt die Sehnsucht nach einfachen Lösungen. Die durch die Euro-Krise beschleunigte, schmerzhafte Modernisierung Italiens erzeugt einen Fluchtreflex — auch in eine düstere Vergangenheit.

Das hat Silvio Berlusconi verstanden. Ausgerechnet am Holocaust-Gedenktag, bei der Einweihung eines Mahnmals in Mailand, sagte er: „Mussolini hat auch viel Gutes getan!“ Die Empörung war groß, doch die Botschaft war abgesetzt. Sie kommt bei vielen an. Das hat auch der Komiker und Neu-Politiker Beppe Grillo begriffen. Er lud die Aktivisten der neofaschistischen Organisation „Casa Pound“ zur Zusammenarbeit mit seiner Bewegung ein. Benito Mussolini bewegt also immer noch eine ganze Menge Stimmen.

Das Predappio Mussolinis ist kein schöner Ort, doch es gibt noch ein anderes Predappio, das ursprüngliche Dorf, ein paar Häuser auf einem steilen Hügel, die sich im Schatten einer mittelalterlichen Burg ducken. Sympathien für Mussolini äußert hier niemand; tatsächlich hat Predappio mit großer Mehrheit einen linken Bürgermeister gewählt, Giorgio Frassineti vom sozialdemokratischen Partito Democratico. Er ist ein kleiner, kugelrunder Mann, wendig wie eine Katze. Er liebt es, Bürgermeister von Predappio zu sein. Das sei eine besondere Aufgabe. Er muss sich immer nur mit den Worten „Ich bin der Bürgermeister von Predappio“ vorstellen, um entweder eine gewisse Verstörung auszulösen – oder helle Begeisterung. Das Spiel mit den Zuschreibungen amüsiert ihn prächtig.

„Predappio hat nun einmal diese Geschichte, die kann man nicht auslöschen!“ Das sagt er als einer, der in seiner politischen Biografie außen links begann und heute links der Mitte gelandet ist. „Es gibt viele junge Leute, die zur Krypta Mussolinis pilgern. Ich rede mit denen. Ich finde es schrecklich, wenn sie dem Faschismus nachhängen. Doch man muss sie ernst nehmen. Denn sie stellen sehr oft die richtigen Fragen: Warum habe ich keine Arbeit? Warum habe ich keine Zukunft? Warum werden wir betrogen? Warum stiehlt die Elite so schamlos? Warum sollten wir nicht Nationalisten sein? Wozu sind wird überhaupt Europäer, wenn es uns nichts bringt? Wozu taugt diese Demokratie überhaupt?“

Mailand, Bocconi-Universität

Das Gebäude der privaten Wirtschaftsuniversität Bocconi ist ein verschachtelter Bau aus Sichtbeton, der durch viel Glas Transparenz vermittelt, gleichzeitig aber kühle, überlegene Macht ausstrahlt. Hier wird die Elite Italiens ausgebildet. Mario Monti war einmal Rektor der Bocconi-Universität. Als er im Herbst 2011 in äußerster Not zum Ministerpräsidenten ernannt wurde, holte er fast alle seine Minister von dieser Hochschule. „Es ist eine der Stärken der Bocconi“, sagt ihr heutiger Rektor Andrea Sironi, „der öffentlichen Verwaltung Personal zur Verfügung zu stellen.“

Die Welt scheint an der Bocconi noch in Ordnung zu sein. 94 Prozent aller Absolventen finden nach ihrem Abgang Arbeit, auch jetzt, in Zeiten der Krise, sind sie noch begehrt. Die Zahl der Studenten aus aller Welt ist ziemlich hoch, was für italienische Universitäten etwas Besonderes ist. Denn sie haben einen schlechten Ruf, sie sind unterfinanziert, sie haben wenig Lehrpersonal von hoher Qualität, und wer sie absolviert, muss sich häufig in das Heer der jugendlichen Arbeitslosen einreihen – oder er flüchtet ins Ausland. Die besten Köpfe verlassen Italien, das ist bereits seit Jahren ein Problem. Inzwischen gehen viele schon gar nicht mehr an die Universität. Im vergangenen Jahr sank die Zahl der Erstsemesterstudenten landesweit um 58.000. Die Nachricht platzte wie eine Bombe mitten in den Wahlkampf.

Die Bocconi berührt all die Aufregung auf den ersten Blick nicht. „Wir konzentrieren uns darauf, unsere Arbeit so gut wie möglich zu machen“, sagt Rektor Sironi und wirkt dabei wie der Kapitän eines Luxusschiffes, das jeden noch so heftigen Sturm überstehen kann. Dabei ist gewiss auch den Professoren der Bocconi nicht entgangen, dass die einjährige Regentschaft ihres ehemaligen Rektors im besten Falle als durchwachsen betrachtet werden kann. Monti hat erfahren müssen, dass es nicht reicht, sich als ein Techniker zu verstehen und sich nur der Sache verpflichtet zu fühlen.

Je länger Monti regierte, je härter er durchgriff, desto mehr politische Zustimmung benötigte er, im Parlament, aber auch in der Öffentlichkeit. Als guter Politiker hätte er viel Überzeugungsarbeit leisten müssen – doch das tat er nicht, oder er begann zu spät damit. Vermutlich war er von der Richtigkeit seiner Sache zu sehr überzeugt, sie erschien ihm evident. Darin ist auch ein Abglanz einer Eliteuniversität zu erkennen, die mit der Mehrheit der Leute, dem „einfachen Volk“, zumindest fremdelt. Sie spricht die Sprache derer nicht, die draußen vor dieser Zitadelle des Wissens und der Macht versuchen, mit tausend Mühen durch die Krise zu kommen. „Wir sehen die ersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung“, sagt Rektor Sironi. Aber selbst wenn er recht hätte – wer hört das draußen auf dem Politbasar, wo der Traumverkäufer Silvio Berlusconi auf der Bühne steht? Vernunft allein schafft keine Mehrheiten.