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„Ja, die Urgroßmutter hat noch was erlitten!“

 

Millionen Deutsche sind im 19. und 20. Jahrhundert ausgewandert. Macht die Erinnerung an diese Migrationsgeschichte die Deutschen sensibler für die Immigranten von heute? Ein Interview mit der Direktorin des Auswandererhauses in Bremerhaven Simone Eick

ZEIT ONLINE: Frau Eick, in Ihrem Haus gibt es die „Galerie der 7 Millionen“. Dort wird das Schicksal der sieben Millionen Migranten geschildert, die Europa über Bremerhaven verlassen haben. Hat die dramatische Lage der Flüchtlinge im Mittelmeer ihre Besucher noch stärker für das Thema Migration sensibilisiert?

Simone Eick: Wir haben im Januar begonnen, Besucher zu befragen, weil uns genau das sehr interessiert. Dabei sind sind wir auf ein allgemeines großes Unwissen gestoßen. Wir haben zum Beispiel die Frage gestellt: „Wie viele Leute hat Deutschland 2014 aufgenommen?“

400 Besucher haben wir befragt. Ein Prozent konnte die richtige Zahl nennen, nämlich rund 40.000 10 Prozent sagten 200.0000, 8 Prozent glaubten, 500.000 Menschen seien im Jahr 2014 aufgenommen worden. Der Rest bewegte sich dazwischen oder lag sogar drüber.

Darauf stellten wird die Frage: „Soll Deutschland mehr Flüchtlinge aufnehmen?“ Über 40 Prozent antworteten mit „Nein!“ Es ist doch klar: Wenn ich wirklich glaube, dass Deutschland 500.000 Personen pro Jahr aufnimmt, will ich nicht, dass noch mehr kommen.

ZEIT ONLINE: Ist das als eine generelle Ablehnung von Flüchtlingen zu verstehen?

Eick: Nein, wir haben auch qualitative Interviews geführt. Da kommt dann die konkrete Hilfsbereitschaft zum Vorschein. Die Ängste sind diffus und abstrakt. Wenn man aber die Leute direkt fragt, ob sie ein Problem damit hätten, wenn in ihrer Nachbarschaft Flüchtlinge unterkämen, sagen sie sofort: „Kein Problem!“

ZEIT ONLINE: Das Auswandererhaus versucht, ein Gefühl für die Erfahrung der Migration zu wecken. Gelingt Ihnen das?

Eick: Die meisten Leute kommen nach dem Besuch raus und sagen: „Das habe ich nicht gewusst.“ Das ist zunächst schon viel wert.

Aber Migrationsgeschichte ist noch nicht Teil der allgemeinen Geschichtserzählung Deutschlands. Die Ausnahme bildet die Arbeitsmigration der 1950er und 1960er Jahre. Die ist aber überwiegend negativ besetzt. „Wir haben heute ja nur Probleme davon!“ – in dem Sinne äußern sich viele. Das wird eins zu eins mit dem Gesamtphänomen der Migration in Verbindung gesetzt.

ZEIT ONLINE: Ziehen denn Besucher eine Verbindung zwischen den Millionen deutschen Emigranten und den Immigranten, die heute zu uns kommen? Oder gelingt ihnen das nicht?

Eick: Es gelingt nicht. Sie trennen es total ab. Es ist seltsam. Ich frage mich, woran das liegt. Ist das Rassismus? Was die deutschen Migranten gemacht haben, wird positiv bewertet: „Die waren mutig, die waren risikobereit.“ Diese Charaktereigenschaft müsste dann auch auf alle anderen Auswanderer übertragen werden, aber das geschieht nicht. Wenn Deutsche über ihre Migrationsgeschichte reden, dann heißt es oft: „Ja, die Urgroßmutter hat noch was erlitten!“ Der afrikanische Bootsflüchtling von heute wird in einem völlig anderem Licht betrachtet: „Er will hier nur unser Sozialsystem ausnutzen!“ Dass es sich in beiden Fällen um gleiche existenzielle Erfahrungen handelt, wird nicht gesehen.

ZEIT ONLINE: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum dieses Einfühlungsvermögen fehlt?

Eick: Ich denke, dass man Empathie lernen kann. Das beginnt schon in der Schule. Die Vielgestaltigkeit der Migration muss dort thematisiert werden. Mit einem Rückblick in die eigene Familiengeschichte könnten viele Deutsche einen persönlichen Bezug herstellen: Millionen Deutsche sind Nachfahren von Flüchtlingen und Vertriebenen.

Aber es wurde in den Familien gar nicht viel darüber geredet, was es beispielsweise hieß, aus Ostpreußen mit einem Treck in den Westen zu kommen. Man sagte zwar, die Familie habe gelitten. Aber mehr auch nicht.

ZEIT ONLINE: Es gibt Menschen, die vor Krieg und Verfolgung flüchten, und es gibt Menschen, die auswandern, weil sie woanders ein neues, ein besseres Leben aufbauen wollen. Unterscheiden wir zu wenig zwischen Flüchtlingen und Arbeitsmigranten?

Eick: Ja, das tun wir.

ZEIT ONLINE: Kann man ihn Ihrem Ausstellungsraum der „Galerie der 7 Millionen“ klar unterscheiden, wer politischer Flüchtling und wer Arbeitsmigrant war?

Eick: Im Nachhinein kann man das natürlich einfach definieren. Aber es gibt immer Mischformen. Die politischen Flüchtlinge, die in der Zeit zwischen dem 19. Jahrhundert und dem Zweiten Weltkrieg das Land verließen, kann man heute klar ausmachen. Für Deutschland waren es im 19. Jahrhundert vor allem die 1848er. Im Deutschen Kaiserreich sind sehr viele Sozialdemokraten geflohen.

Dann gibt es die klassischen Auswanderer, die umgesiedelt sind, um neu zu beginnen. Sie waren sehr flexibel. Sie gingen für ein paar Jahre in ein Land, dann vielleicht in ein anderes. Sie holten die Familien nach, ein Teil der Familie blieb hier, ein Teil ging wieder zurück. Diese Art von Migration setzt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, mit der sich entfaltenden Industrialisierung. Die Flexibilität und Vielförmigkeit ist auch für die Wanderungsbewegungen von heute charakteristisch.

ZEIT ONLINE: Welche Voraussetzungen mussten die Menschen erfüllen, um in die USA einreisen zu können, dem Ziel der meisten Auswanderer?

Eick: Da muss man unterscheiden. Irgendwann wurde nicht mehr jeder hereingelassen. Das begann 1882 mit dem Chinese Exclusion Act, später kam der Japanese Exclusion Act hinzu. Asiaten waren nicht mehr erwünscht. Dann hieß es: Keine Verbrecher, keine Prostituierten, keine Behinderten. Dieses Vorgehen steigerte sich immer weiter bis der erste Quota Act kam. Darin wurde reglementiert, wie viele Angehörige einer Nation die USA reinlassen, und wie viele nicht. Man hat also beispielsweise eine bestimmte Quote von Deutschen einwandern lassen. Als Berechnungsgrundlage erhob man die Zahl der Deutsch-Amerikaner, die im Jahr 1910 in den USA lebten und ausgehend von dieser Zahl durften ab 1921 drei Prozent einwandern. Damit steuerte man die europäische Einwanderung. Denn 1910 lebten zwar viele Deutsch-Amerikaner, und Amerikaner mit britischen oder irischen Wurzeln in den USA, aber sehr viel weniger Italiener und Polen, deren Einwanderung man reduzieren wollte. Es gab also eine klare politisch gesteuerte Selektion.

ZEIT ONLINE: Wenn Sie eine Parallele zu heute ziehen: Fehlt es an klaren Regeln?

Eick: Ja, wir brauchen klare Regeln, die niemanden diskriminieren. Erst einmal: Wie kommen die Leute zu uns? Zum Beispiel könnte man es über die Qualifikation regeln, aber das finde ich gefährlich. Was würde zum Beispiel mit den Frauen geschehen, die über eine solche Qualifikation oft nicht verfügen? Würden die nur über den Familiennachzug kommen können? Wir werden jedenfalls um eine Quote nicht herumkommen. Deshalb müssen trotzdem nicht alle abgeschoben werden, die da sind. Klar ist außerdem: Politisch Verfolgte und Bürgerkriegsflüchtlinge müssen hereinkommen.