Zoran Zaev ist Vorsitzender der sozialdemokratischen Partei Mazedoniens. Er hat durch Veröffentlichung von Telefonmitschnitten der Regierung die Krise ausgelöst, die Mazedonien derzeit erschüttert. Sieben wegen Mordes verurteilte Albaner säßen zu Unrecht im Gefängnis, sagt er im Interview und fordert eine Übergangsregierung.
ZEIT ONLINE: Herr Zaev, seit Wochen präsentieren Sie der Öffentlichkeit immer wieder Telefonmitschnitte der Regierung. Es geht dabei um Korruption und Wahlbetrug. Zehntausende Menschen sind auch deshalb auf die Straße gegangen, um den Rücktritt des Premierministers Nikola Gruevski zu fordern. Wie lange wird er sich noch halten können?
Zoran Zaev: Die Lage ist nicht einfach für ihn. Ich glaube, dass er es der Opposition und der Bürgerbewegung bald leichter machen wird. Ich hoffe, dass wir gemeinsam eine Lösung für die Krise finden und die Menschen beruhigen können. Wir brauchen zunächst eine Übergangsregierung. Sie sollte Neuwahlen vorbereiten. Es gibt dringliche Aufgaben, die wir zu erledigen haben. Die Freiheit der Medien, die Unabhängigkeit der Justiz müssen wieder hergestellt werden. Es muss zu einer Trennung von Partei und Staat kommen. Das sind fundamentale Aufgaben.
Und wir müssen uns dabei alle unserer Verantwortung bewusst sein.
ZEIT ONLINE: Sie haben kürzlich in Straßburg unter Vermittlung von drei EU-Parlamentariern mit Gruevski Verhandlungen geführt. Gibt es einen für ihn gesichtswahrenden Ausweg aus der Krise? Viele Demonstranten fordern, dass er ins Gefängnis geworfen wird.
Zaev: Ich glaube nicht, dass er zurücktritt. Das wäre ein persönliches Schuldeingeständnis. Ich glaube, dass wir durch Verhandlungen eine Interimsregierung bilden können. Und dann kann es auch für ihn einen würdevollen Abgang geben.
ZEIT ONLINE: Aber er müsste in jedem Fall zurücktreten?
Zaev: Es muss für ihn ein Möglichkeit geben, im Zuge eines Prozesses einen Ausweg zu finden. Es gab ja bereits einige Rücktritte seiner Regierung. Das ist eine klare Botschaft von seiner Seite. Er ist bereit.
ZEIT ONLINE: Am 10. Mai sind in Kumanovo schwere Kämpfe zwischen Polizei und albanischen Extremisten ausgebrochen. Es starben 22 Menschen, darunter acht Polizisten. Dieses Ereignis ist bis heute unaufgeklärt. Es gibt Gerüchte, wonach es sich um eine Provokation der Regierung gehandelt haben soll. Was Ihre Meinung dazu?
Zaev: Nach den Informationen, die uns vorliegen, gab es Beteiligung von Regierungsstellen. Ich glaube, es gab auch Verbindungen zu den Sicherheitsapparaten der Regierung. Wir denken, dass da ein Fehler passiert ist. Daher kam es zu der Schießerei und zum Tod von Polizisten. Das war nicht geplant. Irgendetwas ist da schiefgelaufen.
Unsere Gesellschaft aber hat sich von diesem Ereignis nicht irritieren lassen. Die Menschen halten zusammen.
ZEIT ONLINE: Es heißt auch, es gäbe einen dschihadistischen Hintergrund?
Zaev: Ja, in Kumanovo waren Männer beteiligt, die in Syrien gekämpft haben. Das sind Kriminelle. Wir müssen uns aber fragen, warum unsere Sicherheitsapparate nicht vorher gehandelt haben, um sie zu stoppen. Denn das war die Gruppe, die bereits vor Kumanovo eine Polizeistation in einem mazedonischen Grenzort angegriffen hatte. Warum hat man nichts getan? Warum ist man in Kumanovo mit solcher Gewalt vorgegangen? Es hätte andere Mittel gegeben, um die Extremisten auszuräuchern. Man hätte Strom abschalten und das Wasser abdrehen können. Aber die Polizei handelte, als wäre sie im Krieg. Sie schoss aus allen Rohren. Warum?
ZEIT ONLINE: Sie haben die aktuelle Krise ausgelöst, indem sie Telefonmitschnitte der Regierung veröffentlicht haben. Sie tun das Stück für Stück. Warum haben sie nicht alles, was sie haben, auf einmal freigegeben?
Zaev: Wir mussten und müssen vorsichtig sein. Wir müssen Quellen und Material schützen. Dafür gibt es keinen anderen Weg.
ZEIT ONLINE: Woher haben sie das Material?
Zaev: Von Leuten aus dem Sicherheitsapparat. Einige haben das Land inzwischen verlassen, andere sind noch hier. Es sind Whistleblower. Für mich sind es Patrioten.
ZEIT ONLINE: Es gibt in Mazedonien noch einen anderen mehrfachen Mord, der die Gesellschaft bis heute aufwühlt. Im Jahr 2012 sind in einem Vorort von Skopje vier mazedonische Jugendliche und ein Erwachsener erschossen worden. Für diesen Mord sind einige Albaner zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Sie haben angekündigt, dass sie die Wahrheit über diesen Fall kennen. Was ist wirklich passiert?
Zaev: Ich habe versprochen, dass wir die ganze Wahrheit mit unseren Bürgern teilen werden. Aber im Moment sorge ich mich um die Reaktion der albanischen Mitbürger …
ZEIT ONLINE: Warum?
Zaev: Der Fall ist sehr, sehr sensibel. Die Morde geschahen zu Ostern. Das ist sehr symbolisch. Sieben Albaner sind deswegen verurteilt worden. Die Anklage lautete Mord aus terroristischen Motiven. Nach den Informationen, die wir in den Händen halten, sind diese Bürger unschuldig. Sie sitzen zu Unrecht im Gefängnis.
ZEIT ONLINE: Wäre es deswegen nicht besser, sie würden die Beweise dafür schnell auf den Tisch legen? Die sieben Männer könnten freikommen. Sie sind – wie Sie sagen – unschuldig.
Zaev: Ich weiß. Ich mache mir aber Sorgen, dass ein Teil der Albaner gewalttätig wird, wenn das bekannt wird. Es könnte Tote geben. Darum führen wir derzeit intensive Gespräche mit der albanischen Gemeinde, um zu sehen, wie wir eine solche Reaktion vermeiden können. Wir müssen mit der Wahrheit sehr verantwortungsvoll umgehen. Wir müssen die Einheit des Volkes bewahren.
ZEIT ONLINE: Haben Sie Angst, dass Premierminister Gruevski zu sehr in die Ecke gedrängt wird, wenn Sie die Wahrheit über diesen Mordfall öffentlich machen?
Zaev: Ich bin in den sozialen Medien sehr aktiv. Dort lese ich immer wieder Nachrichten von Leuten, die sagen: „Wir gehen in das Gefängnis, befreien die Unschuldigen. Und dann gehen wir direkt in das Büro des Premiers und setzen in fest!“
Es kann zu Problemen kommen.
ZEIT ONLINE: Haben Sie auch Angst, die Lage nicht mehr kontrollieren zu können?
Zaev: Ja, ich bin im Augenblick sehr besorgt. Wir müssen unsere Menschen auf die Wahrheit vorbereiten. Wir müssen sehr verantwortlich sein.
ZEIT ONLINE: Kann es zu einer kriegerischen Auseinandersetzung kommen wie 2001?
Zaev: Nein, unsere Bürger halten zusammen. Sie haben die Erfahrung von 2001 gemacht. Dahin wollen sie nicht zurück. Unsere Bürger sind die besten Bewahrer des Friedens. Das ist die beste Botschaft. Ich fürchte, einzelne könnten Gewalt ausüben.
ZEIT ONLINE: Die aktuelle Krise in Mazedonien findet in einem Augenblick statt, in dem es eine Konfrontation zwischen dem Westen und Russland gibt. Wird Mazedonien zu einem Spielball großer Mächte?
Zaev: Ich bin Führer der Opposition. Ich wüsste, wenn es eine Einmischung großer Mächte in diesem Konflikt gäbe. Aber die gibt es nicht. Es kann sein, dass jemand die Krise nutzen will. Wir sind mit 1,6 Millionen Einwohnern ein kleines Land. 400.000 Mazedonier sind unter 18 Jahre alt. Da ist die Versuchung groß, uns zu manipulieren.
Unser Platz ist eindeutig in Europa. Und wir möchten ein gutes Verhältnis zu Russland, wollen aber nach Europa. Dazu gibt es keine Alternative.