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Die traurige Geschichte von der bosnischen Milch

 

Vor knapp zwanzig Jahren ging der Krieg in Bosnien zu Ende. Seitdem bemüht sich das kleine Land um die Aufnahme in die Europäische Union. Die Gegenwart in Bosnien besteht aus dem Warten auf eine erträumte Zukunft, die nicht kommen will. Geschichten über das Leben im Warteraum

Ulrich Ladurner ist Politik-Redakteur der ZEIT und vom 16. Juni bis 16. Juli mit einem Stipendium des Goethe-Instituts in Bosnien Herzegowina.

Die skandalöse Geschichte mit der bosnischen Milch ist vielen Menschen geläufig, jedenfalls in Bosnien. Sie trug sich vor rund zwei Jahren zu und löste einigen Wirbel aus, der sich allerdings recht schnell wieder legte – wobei sich die Folgen dieser Geschichte bis heute mit voller Kraft entfalten. Aber Skandale werden vom schmerzgewohnten bosnischen Körper schweigend aufgesogen, und es ist dabei nicht sicher, ob diese zur Schau gestellte Leidensfähigkeit einer stoischen Lebenshaltung der Bosnier entspringt oder bereits Apathie in Reinform ist.

Bosnische Politiker müssen sich mit solchen Feinheiten nicht beschäftigten, es reicht ihnen zu wissen, dass irgendwo da draußen ein Volk ist, das sich nicht auflehnen wird, weil ihm auf seinem langen, mühevollen Marsch in eine bessere Zeit die Kraft, der Glaube und die Hoffnung verloren gegangen sind. Die Zukunft erscheint vielen in Bosnien wie eine Fata Morgana. Ein flimmerndes Etwas am Horizont.

Angesichts dieser allgemeinen Erschöpfung können es sich die Politiker leisten, just in dem Moment in eine Art Tiefschlaf zu fallen, da sie für ihr Land und ihr Volk wirklich etwas tun könnten.

Genau davon handelt die Geschichte mit der Milch.

„Wir haben jahrelang geschlafen“

Der Kern der Sache ist rasch erzählt. Milch ist eines der wichtigsten Exportgüter Bosniens. Der größte Abnehmer mit 80 Millionen Litern jährlich ist Kroatien. War Kroatien – muss man sagen. Denn 2013 wurde Kroatien Mitglied der EU, das bedeutet für die Milchimporte aus Bosnien, dass sie nun gewissen EU-Standards entsprechen müssen. Dabei handelt es sich um Hygienevorschriften und ähnliche Dinge, die in ihrer Komplexität überschaubar sind. Die bosnischen Behörden aber hatten es versäumt, die neuen Regeln durchzusetzen. Also brach nach 2013 der Milchexport nach Kroatien zusammen. 80 Millionen Liter Milch müssen die Bosnier nun entweder selbst trinken oder versuchen, sie in andere Länder wie etwa Albanien zu exportieren, zu häufig weit niedrigeren Preisen.

Wie war das überhaupt möglich?

Termin bei Mirko Šarović, Minister für Handel und Wirtschaft von Bosnien Herzegowina. Über den Mann muss man wissen, dass er einen sehr guten Ruf hat, also einer ist, wie es eine unparteiische aber durchaus kritische Expertin ausdrückt, der „wirklich was ändern will“. Er hat für seinen Reformeifer den Preis „Minister des Jahres“ gewonnen, der von einem Journalistenverband verliehen wird.

„Das mit der Milch, Herr Minister, wie konnte das passieren? Es war doch seit sieben, acht Jahren bekannt, dass Kroatien sehr wahrscheinlich 2013 Mitglied der EU werden würde?“

Šarović sagt trocken: „Wir haben jahrelang geschlafen!“

Es ist also vieles möglich in Bosnien.

Falls nun das Volk doch einmal wütend wird – wie im vergangenen Jahr, als völlig unerwartet ein Aufstand gegen Korruption und Misswirtschaft ausbrach, als die Straße kochte und Regierungsgebäude brannten –, dann leiten Politiker den überschäumenden Zorn des Volkes in das immer noch funktionsfähige ethnische Kanalisationssystem ab. In der dunkel-giftigen Brühe, die in diesem weit verzweigten Netz munter vor sich hin blubbert, ertrinkt dann der brennende Wunsch nach Gerechtigkeit.