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Der Fall Kundus

 

Am 30. Juli 2015 wurde der Tod des Führers der Taliban, Mullah Omar, offiziell bekannt gegeben. Am 29. September 2015 eroberten die Taliban die 300.000-Einwohner-Stadt Kundus im Norden Afghanistans.

Spezialeinheiten der afghanischen Armee haben inzwischen Kundus wieder in ihre Hand bekommen, doch die Taliban haben einen wichtigen symbolischen Sieg eingefahren: Kundus nämlich ist die erste größere Stadt, die sie seit ihrer Vertreibung aus Kabul vor 14 Jahren für kurze Zeit einnehmen konnten.

Keine zwei Monate brauchten die Taliban also, um sich vom Verlust ihres charismatischen, historischen Führers zu erholen und stärker aufzutreten als je zuvor. Wie war das möglich?

Auf dem Papier sind die Taliban der Afghanischen Nationalarmee – sie wird von den westlichen Verbündeten immer noch massiv unterstützt  – unterlegen. Sie haben weniger Kämpfer, weniger Soldaten, schlechtere Waffen. Und nach dem Tod Mullah Omars taten sich bei der „Wahl“ seines Nachfolgers bedrohliche Risse auf. Nicht alle waren mit dem neuen Führer Akhtar Mansur glücklich. Es gab Gerüchte von einer möglichen Spaltung der Bewegung.

Gleichzeitig tauchte in den letzten Monaten mit dem „Islamischen Staat“ (IS) ein neuer Konkurrent auf. Der IS ist in Afghanistan zwar immer noch von eher schattenhafter Präsenz, aber für viele hoch ideologisierte Kämpfer ist er schon als Möglichkeit attraktiv.

Schnelles, entschlossenes Handeln war da notwendig. Die Eroberung der Stadt Kundus muss man in diesem Kontext sehen. Trotz der Rückeroberung von Kundus durch die Regierungstruppen hat Akhtar Mansur erreicht, was er erreichen wollte: Er hat bewiesen, dass die Taliban unter seiner Führung sehr erfolgreich sein können. Es ist eine starkes Signal, auch gegenüber dem Konkurrenten IS.

Demgegenüber gab die afghanische Regierung zunächst ein gespenstisches Bild ab. Präsident Aschraf Ghani richtete sich nach der Eroberung Kundus‘ mit einer Fernsehansprache an sein Volk. Er sagte: „Trotz der Probleme, die es in Kundus gibt, möchte ich meinen Mitbürger versichern, dass Kundus unter unserer Kontrolle ist!“

Offenbar war der Präsident zu dem Zeitpunkt nicht in Kontakt mit der Realität. Soldaten und Polizisten waren nämlich vor den Taliban geflohen. Dabei waren sie zahlenmäßig weit überlegen. Nach Angaben der New York Times waren es 7.000, während die Taliban rund 500 Kämpfer in Kundus haben. Auch mit der schnellen Rückeroberung wollte es nicht so recht klappen, die aus Kabul entsandten Verstärkungen blieben zuerst einmal auf dem Weg liegen. Ohne die Luftunterstützung von US-Bombern hätten die Taliban auch den Flughafen von Kundus eingenommen, dort hatten sich die Soldaten der afghanischen Armee zurückgezogen.

Es ist kein Zufall, dass die Taliban in Kundus diesen Erfolg hatten. Die lokale Polizei drangsaliert die eigene Bevölkerung. Sie stiehlt, erpresst und vergewaltigt. Dazu gibt es eine ganze Reihe von glaubwürdigen Berichten.

Wie soll ein Staat attraktiv sein, wenn seine eigenen Vertreter sich wie Räuber aufführen?

Es ist in erster Linie die mangelnde Popularität des Staates, die die Taliban stark macht.