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„Wir werden getötet und unsere Organe werden verkauft!“

 

Am Rande der Europastraße E75, auf der griechischen Seite, kurz vor dem Grenzübergang Idomeni nach Mazedonien, steht ein mehrstöckiges Gebäude, das schon seit vielen Jahren leer steht. Die Fensterhöhlen sind schwarz, die Balkone zerbrochen, die Wände mit Löchern übersät, vor dem, was einmal der Haupteingang gewesen sein muss, wuchert dichtes Strauchwerk. Das Gebäude war gewiss mal ein Hotel, in dem Reisende übernachten konnten, bevor sie ihre Fahrt fortsetzten. Wenn sie nach Norden fuhren, ging es über Jugoslawien nach Westeuropa. Ja, sehr wahrscheinlich existierte Jugoslawien noch, als das Hotel in Betrieb war.

Jugoslawien zerfiel vor knapp 25 Jahren. Es ging in einem Krieg unter. Daran wird in diesen Tagen in Deutschland immer wieder erinnert. Damals sind binnen wenigen Monaten eine halbe Million Menschen vom Balkan nach Deutschland geflohen, eine riesige Zahl, die vielen Deutschen Sorge bereitete. Doch alles ist, das weiß man heute, recht gut gegangen. Deutschland hat die Aufgabe bewältigt, die Kriegsflüchtlinge übrigens auch. 70 Prozent von ihnen sind nach dem Ende des Krieges wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Das rief Kanzlerin Angela Merkel kürzlich in Erinnerung. Sie wollte die Deutschen damit beruhigen und gleichzeitig an die Flüchtlinge und Migranten von heute ein Signal aussenden. Nicht alle werden bleiben dürfen. Die meisten werden wieder in ihre Heimatländer zurückgehen müssen, wenn der Krieg vorbei ist, gemeint ist der Krieg in Syrien. Wann das sein wird, weiß natürlich auch die Kanzlerin nicht.

Die Zahlen der Menschen, die kommen, sind heute vergleichsweise viel größer als in den neunziger Jahren, eine Million ist allein 2015 nach Deutschland gekommen, eine weitere Million, wenn nicht mehr, könnte auch in diesem Jahr kommen und wann die Zahlen geringer werden, wer weiß das schon?

Überhaupt ist die Massenflucht aus dem zerfallenen Jugoslawien aus sehr vielen Gründen nicht mit der Massenwanderung von heute zu vergleichen. Einen Grund findet man ausgerechnet in dem verfallenen Hotel an der Grenze zu Mazedonien.

Dutzende junge Männer haben sich ins Innere der Ruine zurückgezogen. Sie suchen Schutz vor der Nacht, die mit schnellen Schritten kommt und empfindlich kalt wird. Morgen dann wollen sie weiter über die Grenze. Wie sie das bewerkstelligen können, wissen sie nicht. Auf legalem Wege jedenfalls wird es nicht möglich sein. Denn die Männer stammen aus Marokko, Algerien und Tunesien. Für sie ist die Grenze geschlossen. Sie sind keine Kriegsflüchtlinge, sie sind Migranten. Keiner hier würde das Gegenteil behaupten.

Keine Perspektive, keine Arbeit, kein Geld

„Wir haben in unseren Heimatländern keine Perspektive, keine Arbeit“, sagt ein junger Mann, der sich mit dem Namen Raschid vorstellt. Er trägt einen dicken Pullover und eine Wollmütze, um sich vor der Kälte zu schützen.

Die vier anderen Männer, die sich zu uns gesellen, nicken zustimmend. Keine Arbeit, kein Geld, keine Zukunft – deswegen: Auf nach Deutschland!

Sie sind teilweise schon seit Wochen hier. Zuerst haben sie es mit Tausenden anderen an den Bahngleisen versucht, die ein paar Kilometer weiter, am Talgrund, über die Grenze führen. Dort, am Bahnhof von Idomeni, kommen auch heute Tausende Migranten an. Es sind Syrer, Afghanen und Iraker. Sie werden durchgelassen. Die Nordafrikaner müssen aber fürchten, deportiert zu werden, seit klar ist, dass ihnen der Grenzübertritt nicht erlaubt wird. Die Polizei könnte sie jederzeit aufgreifen. Deswegen haben sie sich von der Bahnstation Idomeni entfernt und in dieser Hotelruine Zuflucht gefunden. Die Polizei weiß freilich, wo sie sind. Jeder weiß es.

„Wie soll es jetzt mit euch weitergehen? Was wollt ihr machen?“

„Wir schauen, wie wir weiter kommen … wir suchen nach Möglichkeiten!“, antwortet Raschid.

„Gibt es Leute, die euch über die Grenze bringen?“

Raschid zögert.

„Es ist gefährlich. Man kann ausgeraubt werden. Alles wird einem abgenommen, alles. Und …“, Raschid fährt sich mit einer schnellen Handbewegung über den Bauch, „es gibt eine Mafia, die uns tötet und uns die Organe entnimmt, um sie zu verkaufen.“

„Bist du sicher? Organe verkaufen?“

„Das haben wir gehört.“

„Von wem?“

„Wir haben es gehört.“

„Kennst du jemanden, der Genaueres weiß, etwas Konkreteres?“

„Wir haben es gehört?“

„Du hast keine Gewissheit?“

„Das hört man.“

„Und glaubt ihr diese Geschichte vom Organhandel?“

„Ja, ich glaube das“, sagt Raschid, die anderen nicken zustimmend.

Auch wenn es schwer zu glaubende Gerüchte sind, die Männer gehen vom Schlimmsten aus.

„Und wie lange wollt ihr hier an der Grenze ausharren?“

„So lange wie nötig!“

„Geht ihr nach Hause zurück, wenn es hier nicht mehr weitergeht?“

Raschid antwortet: „Nach Hause? Nein, lieber sterbe ich hier!“

Und wieder nicken alle anderen, um ihre Zustimmung zu bekunden.