Eine grauer Himmel hängt über der serbischen Stadt Šid. Kalter Wind fegt über das flache Land. Die wenigen Passanten in den Straßen haben es eilig. Sie ziehen die Mantelkrägen hoch und laufen über die Bürgersteige, die an vielen Stellen aufgerissen sind. Šid wirkt wie eine sterbende Stadt. Im Bahnhof ist es feucht. Eine Gruppe junger Algerier harrt hier aus, wartet auf besseres Wetter und auf eine Chance, nach Kroatien zu kommen.
„Wohin wollt ihr?“
„Nach Frankreich!“, antwortet einer von ihnen.
„Aber warum geht ihr nicht direkt von Algerien nach Frankreich?“
„Das ist schwierig, hier ist es leichter“, sagt der junge Mann und denkt kurz nach. „Na, wir dachten, es sei leichter.“
Dann lacht er ein müdes Lachen.
„Und was wollt ihr in Frankreich machen?“
„Eine Frau heiraten!“, sagt der Mann und ruft dann laut in die leere, düstere Wartehalle des Bahnhofs hinein: „Une femme!“
Dann lachen alle zusammen. Ob sie es ernst meinen, das lässt sich in diesem Moment nicht sagen. Sie haben vielleicht von den Ereignissen in der Silvesternacht in Köln gehört. Es ist also durchaus möglich, dass sie sich einen Scherz erlauben, indem sie laut ausrufen: „une femme!“. Vielleicht spielen sie mit den Ängsten der Nordeuropäer, vielleicht verspotten sie auf diese Art deren Angst. Es bleibt aber keine Zeit, sie zu fragen, ob sie über die Kölner Ereignisse überhaupt informiert sind und was sie darüber denken. Denn ganz plötzlich brechen sie auf, raffen ihre Habseligkeiten zusammen und laufen aus dem Bahnhof. Wohin? „Es gibt warmes Essen“, ruft einer, doch es ist schon später Nachmittag; vielleicht haben sie eine unerwartete Möglichkeit gefunden, weiterzufahren.
Dem Bahnhof gegenüber steht ein gründerzeitliches Gebäude, das von einem großen Gartengrundstück umgeben ist. Dort sind große, weiße Zelte errichtet worden, die Migranten und Flüchtlinge aufnehmen können. Die Zelte sind an diesem Tag halb leer. Am Vormittag soll ein Zug mit 2.000 Menschen den Bahnhof Richtung Kroatien verlassen haben. Das Haus hingegen ist voller Menschen. Viele von ihnen sind an der Grenze abgewiesen worden.
Ein serbischer Mitarbeiter der UNHCR geht durch die Flure des Hauses. Er ist ein großer, schlanker Mann, mit leicht vornübergebeugter Haltung. Seit zwanzig Jahren arbeitet der Mann, der seinen Namen nicht veröffentlicht wissen will, im Dienst des UNHCR. Er hat vieles gesehen, viel Leid und viel Hoffnung. Doch eine Massenwanderung dieser Art, „so viele Menschen in so kurzer Zeit“, hat er noch nie erlebt.
„Glauben sie, dass bald weniger Menschen kommen werden?“
„Das kann ich nicht sagen, es hängt von so vielen Faktoren ab, zu vielen. Es ist eine sehr komplexe Angelegenheit … .“
Er denkt kurz nach.
„Ich weiß aber, dass Europa sich zerlegen könnte. Das wäre eine große Katastrophe!“
Dann zieht er einen Vergleich zu dem Zerfall Jugoslawiens ins den neunziger Jahren.
„Ich bin in Jugoslawien aufgewachsen. Es war ein gutes Land. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass es zerfällt. Niemals! Aber dann waren plötzlich die Nationalisten da und binnen kurzer Zeit brach alles zusammen!“