Seit Sommer 2015 redet ganz Europa von der Balkanroute – das wirft eine alte Frage auf: Wo beginnt eigentlich der Balkan?
Natürlich kann man dafür eine Landkarte bemühen. Die Geografie sollte doch eine Antwort geben. Doch auch sie ist nur eine Behauptung. Der österreichische Staatskanzler Fürst Metternich (1773–1859), nach dem Ende Napoleons entscheidender Baumeister Europas, sagte etwa: „Der Balkan beginnt am Rennweg in Wien-Landstraße!“ – das ist ein Steinwurf von der Wiener Hofburg entfernt, wo österreichischen Kaiser und Kaiserinnen residierten.
Der Balkan also ist weniger ein geografischer, sondern ein imaginärer Raum.
In ihm befindet sich angeblich all das, wovor die „normalen“ Europäer sich fürchten: Korruption, Misswirtschaft, Zersplitterung, Rückständigkeit, Hass, Gewalt, Krieg. Ein Attentat in Sarajevo löste den Ersten Weltkrieg aus und in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ging Jugoslawien im blutigen Chaos unter. Die Beispiele werden immer bemüht, um die These vom balkanischen Fluch zu belegen.
Der Begriff „Balkanisierung“ will nichts anderes sagen, als dass all diese Fürchterlichkeiten auf den Rest Europas übergreifen könnten.
Der Balkan erscheint immerzu als Gefahr für Europa.
Es war in den letzten Jahren eher still geworden um diesen Raum – doch jetzt ist er wieder zurück in den Köpfen der Europäer, er tauchte als Balkanroute auf, als Highway für Hunderttausende Flüchtlinge und Migranten, als Durchzugslandstrich Richtung Norden, Richtung Deutschland.
Die Massenwanderung wird in Europa zunehmend als Bedrohung empfunden. Sie gelangt über den Balkan nach Europa! Von dort also kommen die Massen.
Armer Balkan, möchte man da sagen.
Es wird gerne und schnell vergessen, dass er zu Europa gehört. Ja, er ist sogar ein getreues Abbild europäischer Schwächen und Krankheiten.
Wer wissen möchte, wie Europa tickt, der sollte auch auf den Balkan blicken.
Denn der Balkan ist das schlechte Gewissen Europas. Auf dem Balkan toben sich die dunklen europäischen Leidenschaften aus.
Die Massenwanderung nach Europa soll gebremst werden. Das ist heute breiter Konsens in Europa. In diesem Zusammenhang ist den Balkanstaaten kürzlich eine ganz bestimmte Rolle zugeschrieben worden: Sie sollen die neue Festung Europas werden.
Das ist im Kern die Botschaft des Gipfels in Wien, den Österreich einberufen hat.
Deutschlands Regierung hat Österreich für diesen Alleingang kritisiert. Doch auch sie wird am Ende nicht unglücklich darüber sein, wenn die Zahlen der Migranten und Flüchtlinge abnehmen, dank der Grenzsperren auf dem Balkan. Es ist leicht, eine Politik des offenen Herzens zu propagieren, wenn andere den hässlichen Part übernehmen.
Die Festung Balkan wird den Menschen dort aber nichts Gutes bringen.
Die mafiösen Netzwerke und korrupten Strukturen, die Politik und Wirtschaft dieser Länder ohnehin schon prägen, werden innerhalb der Festungsmauern so richtig gedeihen.
Die Angst Europas vor der Massenwanderung wird wie eine tonnenschwere Last auf dem Balkan abgeladen, wenn man einmal Griechenland dazurechnet. Wenn es dort dann zu Verwerfungen kommen sollte, wird man schnell wieder sagen hören: Ach, der Balkan! Niemals gibt er Ruhe!