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Blinde Angst am Brenner

 

Die Regierung in Wien hat Angst vor einer neuen unkontrollierten Massenwanderung. Diesmal sollen die Migranten und Flüchtlinge aus Libyen über Italien nach Norden kommen. Von Hunderttausenden ist die Rede. Deswegen lässt die Wiener Regierung am Brenner eine 250 Meter lange Barriere errichten – vorsorglich. Niemand soll unkontrolliert durchkommen.

Nun, das ist ein verständlicher Wunsch. Das Problem allerdings ist, dass Österreich einseitig handelt. Die italienische Regierung ist zwar über die Maßnahmen am Brenner informiert worden, aber mehr auch nicht. Kooperation sieht anders aus.

Die Botschaft Österreichs an Rom ist simpel: Wenn ihr die angeblich bevorstehende Massenwanderung nicht in den Griff bekommt, dann werden wir den Brenner sperren, zur Not mit Soldaten. Es besteht kein Zweifel, dass die Wiener Regierung den italienischen Behörden nicht traut.

Italiens Premier Matteo Renzi hat heftig gegen das Vorgehen Österreichs protestiert. Die Zeitungen in Italien sind voll schäumender Kommentare. In all diesem Getöse sind die Konturen eines fürchterlichen Gespenstes aus der Vergangenheit wiederzuerkennen. Italien und Österreich waren über fast das gesamte 19. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Gegner. Was für Deutschland Frankreich war, das ist für Österreich Italien – der Erzfeind, beladen mit all den Klischees und Vorurteilen. Wir erleben in diesen Tagen die Rückkehr einer unseligen Geschichte. Das ist heikel, das ist explosiv.

Die Debatte um die Grenzsperren am Brenner muss daher schleunigst beruhigt und entdramatisiert werden.

Außengrenzen schützen, das ist Konsens

Man kann sich über die Panik der Wiener Regierung mokieren, man kann sie auch als eine Art Angstfantasie abtun, denn noch sind ja keine Hunderttausenden unterwegs. Doch das wäre falsch, und es wäre ungerecht. Wiens Sorgen muss man ernst nehmen. Es ist ja in der Sache richtig, eine Situation wie im Sommer 2015 vermeiden zu wollen. Darüber besteht europaweit Konsens.

Streit gibt es über die Mittel und Methoden – wie kann man das erreichen, mit wem?

Es gibt gute Gründe, den italienischen Behörden nicht zu vertrauen. Doch man muss trotzdem mit ihnen kooperieren, weil die Migrationskrise nur zusammen gelöst werden kann. Die  europäischen Außengrenzen müssen besser geschützt werden. Das ist dringend erforderlich. Das geht aber nur, wenn man gemeinsam und abgestimmt handelt. Die Wiener Regierung hat nicht erkennen lassen, dass sie zu einer solchen Kooperation mit Rom  bereit ist. Sie hat von Anfang an auf eine verbale Eskalation gesetzt.

Irreparabler Schaden?

Die Regierung glaubt vermutlich, mit dieser harten Haltung einen Großteil der österreichischen, aber auch der europäischen Bevölkerung hinter sich zu haben. Österreich hatte im März bereits die Sperrung der Balkanroute angestoßen. Dafür ist es scharf kritisiert worden, besonders von Deutschland. Tatsache ist aber, dass diese Sperrung Deutschland Luft verschafft hat. Die Österreicher haben die hässliche Arbeit übernommen, die man in Deutschland nicht machen wollte. Der von Österreich initiierte Grenzzaun von Idomeni ist die andere Seite der deutschen Politik der offenen Grenzen.

Am Brenner ist Österreichs Eskalationsstrategie allerdings falsch. Die Integration über Grenzen hinweg ist in dieser Region weit fortgeschritten. Der politische und psychologische Schaden ist daher enorm, vielleicht sogar irreparabel.

Dabei könnte man gerade am Brenner jetzt beweisen, dass die europäische Integration in Krisenzeiten eine Ressource ist, eine Chance. Es gibt hier durchaus ein handlungswilliges und handlungsfähiges Subjekt: die Europaregion Tirol. Sie umfasst Nord- und Südtirol sowie das Trentino. Die Landeshauptleute dieser Regionen haben sich schon mehrmals getroffen, um Notfallpläne für den Fall einer Massenwanderung auszuarbeiten. Man hat den Kontakt zu Rom und zu Wien gesucht. Das reicht vielleicht nicht, aber die Richtung stimmt: Kooperation auf regionaler wie auf zentraler Ebene, Zusammenhalt auf der Grundlage der in den vergangenen Jahrzehnten geschaffenen Integration. Das ist das Rezept.

Die Wiener Regierung sieht diese Möglichkeiten nicht. Sie ist blind vor Angst.