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Die EU darf Mazedonien nicht alleinlassen

 

Mazedonien ist das Bollwerk Europas. Das Symbol dafür ist der Grenzzaun von Idomeni. Doch das Bollwerk bröckelt, ja es steht vor dem Zusammenbruch. Schuld daran sind nicht die Migranten und Flüchtlinge, die am mazedonischen Grenzzaun lagern, schuld daran ist die politische Elite des Landes.

Im Mai 2015 schon – vor fast einem Jahr also – gingen Zehntausende gegen die Regierung von Nikola Gruevski auf die Straße. Anlass war die sogenannte Abhöraffäre. Es war bekannt geworden, dass die Regierung Tausende Menschen hatte abhören lassen. Die Abhörprotokolle gerieten in die Hand der Opposition. Sie veröffentlichte sie nach und nach. Die Protokolle wurden „Bomben“ genannt.

Man sprach damals von einem mazedonischen Maidan. Das Volk, das sich nach Demokratie sehne und Mitglied der Europäischen Union werden wolle, stehe gegen eine korrupte Regierung auf. Man glaubte, ähnlich wie in der Ukraine, dass die Regierung vor dem Sturz stehe. Sie stürzte nicht, aber sie musste auf Druck der EU ihr Personal austauschen, Reformen versprechen und vorgezogenen Wahlen zustimmen. Die Lage schien beruhigt zu sein.

Aufgabe erfüllt

Im Sommer dann begann die Massenwanderung, die mazedonische Demokratiebewegung geriet in völlige Vergessenheit. Mazedonien erschien nun nicht mehr als der Ort einer möglichen demokratischen Revolution, sondern als erste Etappe der „Balkanroute“, dem Trampelpfad für Hunderttausende Menschen, die sich Richtung Europa aufmachten. Wenige Monate später, im Februar 2016, wurde das kleine Land zum Bollwerk Europas. Die österreichische Regierung hatte die Westbalkanstaaten zu einem Gipfel nach Wien geladen. Das Ziel war die Schließung der Balkanroute. Mazedoniens Regierung erfüllte ihre Aufgabe. Sie riegelte die Grenze ab.

Doch dafür forderte sie offenbar einen Preis. „Wir riegeln für euch die Grenze ab, und ihr drückt beide Augen zu!“ – das war wohl die unausgesprochene Botschaft der mazedonischen Regierungspartei Gruevskis, der VMRNO–DPMNE. Oder anders gesagt: Die Herrschenden wollten den Grenzzaun dazu nutzen, die korrupten, autoritären Strukturen im Inneren des Landes zu verfestigen. Alles sollte so bleiben, wie es ist. Das war das Kalkül.

Die Wut auf der Straße

Die Regierung wollte die Uhren der Geschichte sogar zurückdrehen, in die Zeit vor den Protesten. Vergangene Woche begnadigte Staatschef Gjorge Ivanov 56 Politiker, gegen die Ermittlungen aufgenommen worden waren. Dieser Schritt war einer zu viel. Zehntausende gehen seither wieder auf die Straße. Protestiram nennt sich die Bewegung – „ich protestiere“.

Die mazedonische Demokratiebewegung ist also zurück auf der Straße – doch diesmal sind die Umstände weitaus dramatischer, der Ton der Auseinandersetzung ist schärfer, vereinzelt kam es zu Gewalt.

Mazedonien stand seit seiner Unabhängigkeit schon mehrmals vor dem Zusammenbruch. Im Jahr 2000 war es zu einem Fast-Bürgerkrieg zwischen der slawischen Mehrheit und der albanischen Minderheit gekommen. Damals konnte die EU gemeinsam mit der Nato die Ausbreitung des Bürgerkrieges stoppen. Auch im Mai 2015 war es die EU, die einen Kompromiss erzwang und Mazedonien irgendwie über Wasser hielt.

Und heute?

„Bedenken bezüglich des Rechtsstaates“

Die EU-Kommission wollte zunächst erneut vermitteln. Doch dann entschied sie sich, das nicht zu tun. Sie sagte einen geplanten Krisengipfel ab. „Mazedoniens Politiker müssen jetzt – ohne Aufschub – alle Bedenken bezüglich des Rechtsstaates ausräumen“, hieß es in einer Stellungnahme. Dazu gehört ausdrücklich die umstrittene Begnadigung der 56 Politiker. Dazu gehört aber auch die saubere Abhaltung von vorgezogenen Neuwahlen.

Die Stellungnahme der Kommission ist deutlich: Diesmal müsst ihr das allein richten! Wir sind bereit zu helfen, aber wir haben den Weg schon vorgezeichnet. Dazu gibt es keine Alternative.

Es ist verständlich, dass die EU diese Haltung einnimmt. Man kann kein Vertrauen in Mazedoniens Politiker haben. Aber es gibt neben der politischen Elite des Landes noch die mazedonischen Bürger. Sie brauchen die Hilfe Europas.

Neben diesem moralischen Argument gibt es noch ein gewichtiges strategisches. Die EU sollte eine Lektion aus den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts beherzigen. Damals zerfiel Jugoslawien. Europa schaute tatenlos zu. Der Preis dafür war entsetzlich.

Die EU kann sich zwar heute aus Mazedonien „zurückziehen“. Das Problem Mazedonien wird sie damit nicht los – es wird als Albtraum zurückkommen.