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Es wird eine Zeit nach Erdoğan geben

 

50.000 Soldaten, Richter und Lehrer verhaftet oder suspendiert; Ausreiseverbot für Akademiker; noch schärfere Verfolgung von Journalisten; Schließung weitere Medien; Drohung mit der Todesstrafe – die Zeichen sind eindeutig: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan verwandelt die Türkei nach dem gescheiterten Putsch gegen ihn in eine offene Diktatur.

Wie soll die Europäische Union damit umgehen?

Zunächst einmal sind die Türkei und Erdoğan nicht ein und dasselbe. Das wird im Augenblick leicht vergessen. Auch wenn Erdoğan allmächtiger Präsident dieses Landes ist, so hat die Türkei gewiss eine längere Lebensdauer. Es wird also eine Zeit nach Erdoğan geben. Sie kann schnell oder langsam kommen, aber sie wird kommen. Nach dem Ende Erdoğans wird die Türkei geschwächt sein. Dieses Land wird dann gute Freunde brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen.  Die EU muss sich auf diese Zeit konzentrieren. Langfristig muss die Türkei ein Partner der EU bleiben.

Und kurzfristig?

Kanzlerin Angela Merkel hat die Linie vorgegeben: „Die Wiedereinführung der Todesstrafe ist mit der Perspektive eines EU-Beitritts auf keine Weise vereinbar.“ Das ist eine klare Ansage. Und sie ist richtig.

Erdoğan ist ein Politiker, dem man Grenzen setzen muss, denn er selbst kennt offenbar keine mehr. Die Türkei von heute, die Türkei, die er geformt hat, kann in der EU keinen Platz haben. Selbst ohne Einführung der Todesstrafe, Erdoğan hat die Türen zu Europa in den letzten Tagen mit einem lauten Knall zugeschlagen.

Merkel freilich ist von Erdoğan so abhängig wie kein anderer europäischer Staatschef. Die EU hat auf Drängen der deutschen Kanzlerin mit dem türkischen Präsidenten den sogenannten Flüchtlingsdeal geschlossen und ihn damit zum Türsteher Europas gemacht. Kündigt Erdoğan den Deal, wird Merkel erhebliche Schwierigkeiten bekommen.

Bisher, so heißt es in Brüssel, habe sich die Türkei an alle Abmachungen des Flüchtlingsabkommens gehalten. Das hat seine guten Gründe. Auch Erdoğan hat Erwartungen an das Abkommen. Zum Beispiel hat er seinen Landsleuten die Visafreiheit nach Europa in Aussicht gestellt.

Doch die EU weigert sich bisher, das zuzugestehen – mit gutem Recht. Die EU kann dem allmächtigen Erdoğan also durchaus erhebliche Schmerzen bereiten. Das weiß er. Trotzdem, das sollte die EU in diesen Tagen gerne deutlich machen.

Wie stark die EU gegenüber Erdoğan ist, das hängt auch davon ab, ob sie in der Lage ist, einen Plan B für die Flüchtlingsfrage zu entwerfen. Die EU muss sich auf eine unwahrscheinliche, aber mögliche Kündigung des Flüchtlingsabkommens vorbereiten – möglichst schnell.

Dass das geschieht, mag unwahrscheinlich sein. Denn in der Flüchtlingsfrage gibt es keine Einigkeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Vielleicht aber ließe sie sich leichter herstellen, wenn sich alle daran erinnern, dass die Europäer den Autoritären Herrschern mitunter entschlossen und einig entgegentreten: Die EU hat gegen das aggressive Russland Wladimir Putins Sanktionen erlassen. Einfach war das nicht, aber es wurde gemacht.

Und Erdoğan spielt in Putins Liga.