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An den Hühnchen liegt es nicht

 

Europas koloniale Vergangenheit macht es schwer, die Beziehungen zu Afrika in einem nüchternen Licht zu betrachten.

Die Debatte um die Fluchtursachen zeigt das recht gut. Europa als Ziel der Massenmigration taucht dabei gleichzeitig als ihr Verursacher auf, weil es sich angeblich noch immer neokolonial verhalte, wie die Kritiker sagen. Die EU erscheint als ausbeuterische Macht, die sich um die Konsequenzen ihres Tuns nicht schere.

Als Beispiel dafür wird immer wieder gerne der Geflügelexport aus Europa nach Westafrika angeführt. Billige EU-Fleischexporte zerstörten die einheimische Geflügelindustrie und nähmen den Afrikanern damit ihre Lebensgrundlage, heißt es. Massenmigration sei die Folge.

Tatsächlich hat sich der Export von Hühnerfleisch aus Europa nach Westafrika im letzten Jahrzehnt verdreifacht. Doch die Ursache dafür ist nicht etwa die unterstellte neokoloniale Handelspolitik der EU. Die Lage ist komplexer.

Zunächst einmal exportiert nicht „die EU“ Geflügelfleisch nach Westafrika, sondern das tun privatwirtschaftliche Unternehmen. Sie passen ihr Angebot an sich ändernde Essgewohnheiten der Konsumenten an. Europäer essen zunehmend nur mehr Hühnerbrust, während sie andere Teile der Tiere verschmähen.

Sollen europäische Unternehmen alles wegwerfen, was die Europäer nicht essen? Zumal in vielen afrikanischen Ländern Beine, Flügel und Hälse des Geflügels fester Bestandteil der Ernährung sind. Aus betriebswirtschaftlicher Perspektive ist es für die Unternehmen besser, den „Rest“ zu niedrigen Preisen im Ausland anzubieten, als ihn zu verklappen.

Außerdem steigt die Nachfrage nach Hühnerfleisch in den westafrikanischen Staaten, und die lokale Industrie ist nicht in der Lage, diese zu decken. In Nigeria, dem mit rund 180 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Staat Afrikas, gibt es etwa eine konstante Lücke von 1,2 Millionen Tonnen Hühnerfleisch pro Jahr. Sie kann nur über Importe geschlossen werden.

Es steht diesen westafrikanischen Staaten frei, ihre heimische Geflügelindustrie zu schützen. Sie haben das schon auf verschiedene Weise getan. Ghana erhöhte die Zölle auf Geflügelfleisch auf 35 Prozent. Kamerun, Nigeria und Senegal haben komplette Importverbote verhängt, ohne dass das irgendwelche Strafmaßnahmen der EU zur Folge gehabt hätte. Es geschah etwas anderes: Umgehend entwickelte sich ein Schwarzmarkt für Geflügelfleisch – mit entsprechenden Gefahren für die Gesundheit der Menschen.

Auch die viel gescholtenen Handelsabkommen der EU mit afrikanischen Staaten, die sogenannten Economic Partnership Agreements (Epa), sind kein westliches Teufelszeug. Sie erlauben den afrikanischen Partnerländern, Schutzmaßnahmen für die eigene Industrie zu ergreifen – aus Gründen des Marktschutzes oder der Ernährungssicherheit etwa. Außerdem sind Agrarprodukte von den Epa explizit ausgenommen.

Der Begriff des Neokolonialismus taugt also nicht, um das komplexe Verhältnis zwischen der EU und Afrika zu erfassen.

Damit taugt er auch nicht für ein wirksame Bekämpfung der Fluchtursachen.