Nach dem Referendum in der Türkei sieht es so aus, als würde Erdoğan tatsächlich sein Präsidialsystem bekommen. In der EU-Kommission hat man sich darauf bereits vorbereitet – und eine rote Linie gesetzt.
Welche Optionen liegen also auf dem Tisch? Worüber wird in Brüssel nachgedacht?
Ausgangspunkt jeder Überlegung ist offenbar, dass die Türkei nach Möglichkeit ein wichtiger Partner der EU bleiben soll – auch mit dem Autokraten Recep Tayyip Erdoğan an der Spitze. Einen harten Bruch mit dem Land wird die EU nur vollziehen, wenn Erdoğan die Todesstrafe einführen sollte. Das sei, so sagte der Sprecher von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, nach dem Bekanntwerden der Wahlergebnisse die „röteste aller roten Linien“. Die Tatsache, dass die türkischen Wähler sich für Erdoğans Autokratie entschieden haben, ist bisher noch kein Grund, die Beitrittsverhandlungen zu beenden, das jedenfalls ist aus Kreisen der Kommission zu hören. Jeder weiß zwar, dass der EU-Beitritt der Türkei jetzt unwahrscheinlicher denn je ist. Doch man hält weiter an der Option fest. Man will es Erdoğan überlassen, den Stecker zu ziehen.
Der Druck auf Brüssel, die Beitrittsgespräche sofort zu beenden, wird aber wachsen. Die österreichische Regierung fordert dies bereits seit geraumer Zeit. Ein Beitritt der Türkei, sagte der österreichische Kanzler Christian Kern im vergangenen August, sei eine „diplomatische Fiktion“. Außer den Niederlanden und Bulgarien folgte bisher offiziell niemand Kerns Forderung.
Selbst wenn sich Österreichs Position jetzt durchsetzen könnte, stellt sich für die EU die Frage, wie das Verhältnis mit der Türkei in Zukunft gestaltet werden soll. Da gibt es die Idee eines Grundlagenvertrages zwischen der EU und der Türkei, wie ihn die FDP fordert. Doch die Idee ist bis heute schwammig geblieben. Ein Grundlagenvertrag müsste von Gemeinsamkeiten ausgehen – die es nach wie vor auch eigentlich gibt. Ein wichtiges Band zwischen der EU und der Türkei sind die wirtschaftlichen Beziehungen. Die EU und die Türkei sind seit 1995 durch eine Zollunion verbunden, der Handel zwischen ihnen hat seitdem enorm zugenommen.
Aktuell stehen aber Verhandlungen über eine Vertiefung der Zollunion auf dem Plan. Im Dezember 2016 bat die Kommission den Europäischen Rat um ein entsprechendes Verhandlungsmandat. Bei erfolgreichen Verhandlungen könnten demnach Zölle auch für landwirtschaftliche Güter, Dienstleistungen und öffentliche Aufträge fallen. Die EU hat ausgerechnet, dass das zu einer Zunahme der Exporte in die Türkei von 27 Milliarden Euro führen würde. Die Türkei hingegen könnte schätzungsweise Waren im Wert von fünf Milliarden Euro in die Staatengemeinschaft einführen. Die EU ist und bleibt der größte Handelspartner der Türkei.
Brüssel ist sich jedenfalls bewusst, dass Erdoğans Popularität zu einem wesentlichen Teil auf das Wachstum der türkischen Wirtschaft gründet. Deswegen, so das Kalkül, wird der Präsident weiterhin an florierenden wirtschaftlichen Beziehungen mit der Union interessiert sein. Niemand sonst kann der Türkei so viel bieten wie die EU, auch nicht Putins Russland, zu dem sich Erdoğan neuerdings hingezogen fühlt.
Das Flüchtlingsabkommen wird Erdoğan nach Einschätzung von Beamten der EU-Kommission nicht aufkündigen. Dazu profitiert er zu sehr von dem Deal. Außerdem würde er sich im Falle einer Kündigung auf „eine Stufe mit Menschenhändlern“ stellen. Das könne auch ein Erdoğan nicht wollen.
Es bleibt die Frage, wie die EU es rechtfertigen kann, die Wirtschaftsbeziehungen mit der Türkei jetzt noch weiter auszubauen.
Immerhin hat die Kommission versprochen, dass der „Respekt von Grundrechten und Demokratie ein wesentlicher Bestandteil der Vereinbarung sein wird“.
Ob dieser Respekt von Autokrat Erdoğan mit Erfolg eingefordert werden kann, wird sich bald zeigen.