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Kind des Westens

 

Wenn wir zur Zeit auf die arabischen Länder blicken, dann vor allem nach Ägypten, nach Syrien oder nach Tunesien. Nicht aber nach Libyen. Das ist verständlich, denn Libyen ist für die Zukunft des Arabischen Frühlings nicht entscheidend, Ägypten und Syrien sind es schon.

Dennoch hat der libysche Fall eine Besonderheit, die schwer wiegt: Es ist der einzige Staat, in dem der Westen militärisch aktiv eingegriffen hat. Nato-Kampfbomber waren die Luftwaffe der Rebellen. Sie haben den Diktator Muammar al-Gaddhafi zur Strecke gebracht. Das heutige Libyen ist ein Ergebnis westlicher Intervention — es ist ein Kind des Westens. Schon allein darum gebührte ihm mehr Aufmerksamkeit.

Also schauen wir, wie es dem Land geht, was sich dort in den vergangenen zehn Tagen ereignet hat.

Am 27. Juli erschoss ein Attentäter in der ostlibyschen Stadt Bengasi Abd al-Salam al-Musmari. Der Rechtsanwalt war einer der Führer des Aufstandes gegen Gaddhafi. Nach dessen Sturz wurde Al-Musmari zu einem scharfen Kritiker der bewaffneten Milizen wie auch der Regierung. Nach dem Attentat auf Al-Musmari stürmten Hunderte aufgebrachte Männer das Büro der Muslimbrüder im Bengasi. Am Samstag darauf flohen fast 1.200 Häftlinge aus dem Gefängnis der Stadt, Bewaffnete sollen ihnen die Flucht ermöglicht haben. Am Sonntag explodierten in Bengasi vor zwei Gerichtsgebäuden Kofferbomben und verletzten 43 Menschen.

Nicht viel besser ist es in der Hauptstadt Tripolis. Am Donnerstag gab das Innenministerium bekannt, es habe 12 Bomben vor dem Radisson Hotel entschärft. Am 25. Juli wurde die Botschaft der Vereinigten Arabischen Emirate angegriffen. Zwei Tage davor schlug eine Rakete zwischen einem Appartementhaus und dem Hotel Corinthia ein, wo viele internationale Unternehmen ihren Sitz haben, zudem liegen dort die britische und kanadische Vertretung. Die USA und Großbritannien haben ihr Botschaftspersonal bereits abgezogen. Die Nato bezeichnet Libyen heute als das größte offene Waffenarsenal der Welt.

Es ist also ein Bild des Schreckens, das dieses Land bietet.

Hätte man wissen können, dass es so kommt? Die Antwort lautet leider: ja. Es gab reichlich Stimmen, die davor warnten, dass es bei einem Sturz Gaddhafis zu einer lang anhaltenden Instabilität kommen werde, die in die gesamte Region ausstrahlen wird.

Wäre es also besser, wenn Gaddhafi noch an der Macht wäre? Die Frage zu stellen, ist müßig, denn im Frühjahr 2011 brach ein Aufstand gegen den Diktator aus. Nach mehr als einem halben Jahr des Kampfes stürzte Gaddhafi.

Die Frage, die man sich angesichts der Lage in Libyen aber vorlegen muss, lautet: War die militärische Intervention des Westens sinnvoll? Was kann man daraus für die Zukunft lernen?

Die Befürworter werden sagen: „Ja, sie war sinnvoll, denn es ist Schlimmeres verhindert worden!“ Hätte der Westen nicht interveniert, so das Argument, hätte Gaddhafi den Aufstand niedergeschlagen. Man warf ihm genozidale Absichten vor und zitierte die schuldhafte Untätigkeit des Westens in Ruanda im Jahr 1994. Damals fielen rund 800.000 Menschen einem Völkermord zum Opfer.

Der Vergleich mit Ruanda war immer überzogen. Er sollte aber eine Intervention rechtfertigen. Vermutlich wäre es ohne westliche Intervention zu einem Abnutzungskrieg zwischen Rebellen und Gaddhafi gekommen – so, wie wir ihn jetzt seit mehr als zwei Jahren in Syrien erleben.

Die Gegner einer Intervention sagen: „Nein, die Intervention war nicht sinnvoll, weil sie Libyen in einen gefährliches, instabiles Land verwandelt hat!“ Dieses Argument ist nur teilweise richtig. Sobald der Aufstand ausgebrochen war, konnte Gaddhafi keine Stabilität mehr garantieren.

Aus der schlimmen Lage, in der sich Libyen befindet, muss der Westen folgende Lehre ziehen: Er sollte nur intervenieren, wenn er sicher sein kann, dass er die Folgen seines Handelns einigermaßen kontrollieren und die Zeit nach der Intervention wesentlich mitgestalten kann. Das ist für Libyen offenbar nicht Fall, und für den Irak und Afghanistan auch nicht.