Vor knapp zwanzig Jahren ging der Krieg in Bosnien zu Ende. Seitdem bemüht sich das kleine Land um die Aufnahme in die Europäische Union. Die Gegenwart in Bosnien besteht aus dem Warten auf eine erträumte Zukunft, die nicht kommen will. Geschichten über das Leben im Warteraum.
Ulrich Ladurner ist Politik-Redakteur der ZEIT und vom 16. Juni bis 16. Juli mit einem Stipendium des Goethe-Instituts in Sarajevo.
Die Chinesen, sagt eine Bewohnerin Sarajevos, waren schon hier, aber sie sind wieder weg, weil in Bosnien keine Geschäfte zu machen sind – ausgerechnet die Chinesen, die doch sonst überall auf der Welt gute Geschäfte machen. Die Malaysier haben ein massives, festungsähnliches Hochhaus an der Ausfallstraße Richtung Flughafen gebaut, aber mehr als ein Drittel der Wohnungen ist nicht besetzt, sagt ein Bewohner der bosnischen Hauptstadt, und nicht weit davon entfernt haben Indonesier eine Moschee gebaut, die größte allerdings steht in Alipašino Polje, die König Fahd Moschee, gestiftet von den Saudis, was manche Menschen in Sarajevo beunruhigt, denn es fließt viel Geld aus den Golfstaaten nach Bosnien. Arabische Investoren haben riesige, luxuriöse Einkaufszentren gebaut, die in ihrer grellen Pracht nicht so recht zu den Nachrichten über Armut und Arbeitslosigkeit in der früheren jugoslawischen Republik passen wollen.
Am Ufer des gezähmten Flusses Miljacka steht ein würfelförmiges, in Glas gekleidetes Gebäude. Es ist die Vertretung der Europäischen Union. 160 Menschen arbeiten hier, und auf die Frage, warum es so viele brauche, sagt ein EU-Beamter, dass man in all den bosnischen Ministerien jemanden haben müsse, der den Ministern über die Schulter schaue und zur Not anschiebe, denn schließlich solle das Land ja irgendwann Mitglied der EU werden, eine andere Perspektive gebe es ja nicht für knapp 4,5 Millionen Bewohner. Und es gibt in der Tat sehr viele Minister. Die Rede ist von über 150.
Das ist wohl die höchste Ministerzahl in Relation zur Bevölkerung weltweit. Und natürlich hat dies seine Gründe.
Der Krieg in Bosnien wurde 1995 mit dem Vertrag von Dayton beendet. Er schuf ein stark föderalisiertes Land. Es gibt als größte Einheiten die Bosnisch-Herzegowinische Föderation, die serbische Teilrepublik Srpska und das Sonderverwaltungsgebiet Brčko – und nun ließe sich der kafkaeske Aufbau dieses Landes über sehr viele Zeilen beschreiben, doch der Leser würde sich darin schnell verlieren wie in einem Irrgarten. Errichtet wurde das Labyrinth jedenfalls, um einen Krieg zu beenden, nicht um eine Zukunft zu bauen. Der bosnische Staatsapparat ist so teuer wie kein anderer auf der Welt. Er verschlingt einen Großteil des Haushalts.
In den vergangenen 20 Jahren ist der Daytoner Irrgarten nicht abgebaut oder auch nur verringert worden. Wer nach der Zukunft des bosnischen Staates sucht, kann also immer noch im Handumdrehen orientierungslos werden, ja ihm droht sogar Schlimmeres, nämlich dass er verschlungen wird von diesem komplizierten Räderwerk, das hier überall am Werk ist und das einzige Ziel zu haben scheint, sich selbst am Leben zu erhalten, und das alles und jeden mit gnadenloser Geduld zermürbt, der der Verwirklichung seines Ziels entgegensteht.
Gut möglich, dass also irgendwann auch die 160 Beamten der EU deprimiert abziehen, klein gekocht in der Hölle der bosnischen Bürokratie, die freilich, das sollte nicht vergessen werden, diesem kleinen Land in Dayton von den westlichen Führungsmächten aufgedrückt wurde.
Noch ist es nicht so weit, und es soll auch nie so weit kommen, das wird einem in der Haus der EU-Delegation immer wieder versichert. Bosnien stehe wieder weit oben auf der To-do-Liste der EU. Man wolle es mit erneuerter Kraft noch einmal versuchen, das Land näher Richtung EU zu schieben.
Und woher dieser plötzliche Energieschub?
Was ist Bosnien aus der Sicht Brüssels im Vergleich zur Eurokrise?
Was ist Bosnien in den Augen der Geostrategen im Vergleich zu den Kriegen in Afghanistan, in Libyen, im Irak, in Syrien?
Ja, man hatte es irgendwie vergessen und verdrängt, dieses Land „da unten“.
Doch dann brach im Jahr 2014 ein sozialer Aufstand in Bosnien aus. Er richtete sich gegen die korrupte Elite des Landes. Er war kurz, heftig und gewalttätig. Das Aufstandsfeuer warf ein grelles Licht, das bis nach Brüssel leuchtete. Irgendwas, das begriff man jetzt, irgendwas läuft in Bosnien fürchterlich schief, irgendwas musste getan werden. Dann kam der Krieg in der Ukraine, und Putins Russland entpuppte sich als höchst aggressiver Gegner der EU.
Russland wirft einen dunklen Schatten auf den Balkan, mehr ist es im Augenblick nicht, doch das reicht schon mal, um der EU Beine zu machen.
Also sind sie alle hier, die Europäer, die Russen, die Amerikaner, die Saudis, die Türken – und es herrscht das Gefühl, dass in dieser offenen Stadt Sarajevo nach vielen Jahren des Stillstands wieder an einem etwas größeren Rad gedreht wird.