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Der Zerfall beginnt am Balkan

 

Wenn es auf dem Balkan laut und hektisch wird, dann sollte auch der Rest Europas wachsam sein. Die Region wird oft als Hinterhof Europas bezeichnet. Dabei ist sie immer auch eine Bühne gewesen, auf der gesamteuropäische Tragödien ihren Anfang nahmen. Es war ein Attentat in Sarajevo, das den Ersten Weltkrieg auslöste. In den neunziger Jahren dann brachen auf dem Balkan Kriege aus, die man sich in Europa eigentlich nicht mehr hätte vorstellen können.

Nun wird dort wieder gestritten – so sehr, dass sich der slowenische Ministerpräsident Miro Cerar vor dem Brüsseler Flüchtlingsgipfel zu einer drastischen Warnung gezwungen sah: „Wenn nicht sofort was geschieht, zerfällt Europa in wenigen Wochen.“ Das sollte man ernst nehmen. Und zwar nicht nur, weil es nicht das erste Mal wäre, dass der Zerfall Europas auf dem Balkan seinen Anfang nimmt.

Seit dem Beginn der großen Flüchtlingswanderung im September haben die meisten verantwortlichen Politiker in Europas Südosten davor gewarnt, dass es ihre Staaten überfordern werde, sollten die europäischen Staaten ihre Flüchtlingspolitik verschärfen und gleichzeitig die Zahl der Flüchtlinge nicht sofort abnehmen.

Nun scheint genau das einzutreten. Die deutsche Regierung will „Ordnung“ in die Flüchtlingskrise bringen. Das bedeutet auch: mehr Härte gegenüber den Flüchtlingen. Das Asylrecht ist verschärft worden. Und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte vor dem Brüsseler Gipfel, die „Politik des Durchwinkens“ müsse ein Ende haben. So wurde auf dem Gipfel beschlossen, dass auf der sogenannten Balkanroute Kapazitäten für die Aufnahme von 100.000 Flüchtlingen geschaffen werden sollen. 50.000 davon in Griechenland, die restlichen 50.000 in den Balkanstaaten.

Aus deutscher Sicht ist das angesichts von Hunderttausenden Asylbewerbern, die allein nach Deutschland kommen, eine kaum spürbare Linderung des Flüchtlingsdrucks. Junckers Bemerkung und Deutschlands härtere Gangart aber lässt viele im Südosten Europas glauben, dass nun das wahr wird, was sie seit Langem schon ahnen: dass nämlich der Balkan zu einem riesigen Auffanglager für Hunderttausende Flüchtlinge wird, die der Rest Europas nicht haben will.

Die Balkanstaaten sind allesamt klein, sie sind zerbrechlich und gezeichnet vom Krieg der neunziger Jahre. Das Verhältnis mancher Staaten zueinander kann man eher als eingefrorenen Konflikt denn als Frieden bezeichnen. Wenn die Flüchtlingskrise nicht so geregelt werden kann, dass sich alle Staaten fair behandelt fühlen, könnten sie wieder auftauen. Eine Ahnung davon konnte man in den letzten Tagen und Wochen bekommen, als Serbien, Kroatien und Slowenien verbal zum Teil heftig aneinander gerieten. Der Auftritt des kroatischen Ministerpräsidenten Milanović in der Brüsseler Runde soll derart heißblütig gewesen sein, dass er heftig mit seinem slowenischen Amtskollegen Cerar aneinander geriet. Schon vor einigen Wochen reagierte Serbien auf die Schließung der kroatischen Grenze mit der Feststellung, es sei „angegriffen worden“.

Das ist der Hintergrund, vor dem man die Warnung des slowenischen Ministerpräsidenten sehen muss. Und die Herausforderung, vor der die EU auf dem Balkan steht.

Die Ergebnisse des Brüssel-Gipfels aber wirken nicht so, als seien sich alle dieser Herausforderung bewusst. Mehr reden will man, Informationen über die Flüchtlingszahlen austauschen, sich insgesamt besser koordinieren. Das klingt richtig und ist es auch. Doch angesichts der politischen Gefahr, die in der Region fortbesteht, ist es viel zu wenig. Wir werden bald die nächsten Balkan-Krisengipfel erleben. Wenn es gut läuft.