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Das Projekt Afghanistan ruht

 

Wir werden Afghanistan nicht den Rücken kehren – das hatte die deutsche Bundesregierung versprochen, als sie das Feldlager Masar-i-Scharif 2013 nach zehn Jahren an die afghanischen Sicherheitskräfte übergab. Nun, es ist anders gekommen.

Gewiss, die Bundeswehr ist noch da. Das Kontingent wurde sogar aufgestockt, nachdem die Taliban im vergangenen Jahr überraschend für kurze Zeit die Stadt Kundus einnehmen konnten. Doch von einem starken deutschen Engagement in Afghanistan kann man nicht mehr sprechen. Das gilt auch für alle anderen westlichen Staaten. Afghanistan ist auf deren Agenda weit nach unten gerutscht, jedenfalls Afghanistan als Wiederaufbauprojekt.

Afghanistan als Kriegsschauplatz taucht immer wieder mal schlaglichtartig auf, vor wenigen Tagen etwa. Da tötete eine amerikanische Drohne den Führer der Taliban, Achtar Mohammed Mansur. Er stand „dem Frieden im Weg“ kommentierte US-Außenminister John Kerry den Angriff. Insgesamt sind Berichte aus Afghanistan aber rar geworden.

Dabei ist die Lage dort dramatisch. Nach einem jüngst von Amnesty International veröffentlichten Bericht sind in Afghanistan 1,2 Millionen sogenannte Binnenflüchtlinge unterwegs. Die Zahl hat sich seit 2010 verdreifacht. Die Regierung in Kabul hat zwar ein wohlklingendes Konzept für eine Flüchtlingspolitik entwickelt, aber es wird nicht umgesetzt. Noch schlimmer, kaum jemand weiß etwas darüber.

Amnesty International hat festgestellt, dass außerhalb des Flüchtlingsministeriums nur wenige Beamte überhaupt etwas von einem Konzept afghanischer Flüchtlingspolitik wissen. Und keiner der für den Bericht interviewten Flüchtlinge hat von je einem Hilfskonzept der Regierung gehört. Es ist, wie es oft ist in Afghanistan: Hinter der schönen Fassade verbirgt sich ein Abgrund an Korruption und Misswirtschaft.

Die westlichen Staaten haben sich nach 14 Jahren massiven Einsatz aus guten Gründen aus Afghanistan weitgehend zurückgezogen. Erschöpfung ist einer der Gründe. Doch der Rückzug darf nicht in Gleichgültigkeit münden. Das gebietet schon das Eigeninteresse. Allein im vergangenen Jahr haben mehr als 230.000 Afghanen in der EU einen Asylantrag gestellt.

Die westlichen Staaten haben auch immer noch erheblichen Einfluss in Afghanistan. Die afghanische Regierung ist ja völlig abhängig von den Zuwendungen der internationalen Gemeinschaft. Damit gibt es auch ein Druckmittel, um die Regierung dazu zu drängen, ihr eigenes Flüchtlingskonzept endlich auch umzusetzen.

Es bleibt freilich die Frage, wie man im Westen die Aufmerksamkeit aufrechterhalten kann. 14 Jahre Einsatz haben alle müde gemacht, außerdem gibt es Syrien, Irak, Libyen …

Die 1,2 Millionen afghanischen Binnenflüchtlinge fliehen vor Krieg, Gewalt, Extremismus, Staatszerfall und einer anhaltenden Dürre. Diese Zusammenballung von Faktoren finden wir in zunehmendem Maße auch in Ländern unserer näheren Nachbarschaft.

Afghanistan hat also Modellcharakter für Krisen, die uns in naher Zukunft noch beschäftigen werden.