Waren es 800, 600 oder 1.100 Menschen, die vergangene Woche im Mittelmeer ertrunken sind? Wer wüsste schon, es genau zu sagen. Kaum jemand.
Die Europäer haben sich an das massenhafte Sterben im Mittelmeer gewöhnt. So schrecklich das ist, so sehr war dies zu erwarten. Dabei hat es an Empörung in den letzten Monaten und Jahren nicht gefehlt, über das Schlachten in Syrien, über den Zerfall Libyens, über den Dauerkrieg in Afghanistan, über den IS und die Taliban, über die Armut in Afrika, über die Europäische Union, die nicht in der Lage ist, die Flüchtlingskrise zu meistern.
Doch dem moralischen Eifer folgte meist betretenes Schweigen.
Tatsächlich gibt es für die aktuellen Konflikte und Krisen weder einfache noch schnelle Lösungen. Jedenfalls ist auf absehbare Zeit nicht zu erkennen, wie etwa Libyen oder Afghanistan wieder zu funktionierenden Staaten werden könnten, oder wie in Syrien Frieden einkehren wird. Auch das wirtschaftliche Gefälle zwischen Afrika und Europa wird in in naher Zukunft nicht überwunden werden.
Es breitet sich ein Ohnmachtsgefühl aus.
Wie gleichgültig und kalt Europa sein kann, haben schon die neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gezeigt. Dreieinhalb Jahre schaute Europa untätig zu, wie die europäische Stadt Sarajevo belagert, beschossen und ausgehungert wurde.
Was kann man schon tun? Nichts, war die Antwort – und diese Antwort kommt heute häufig wieder.
Es ist ein Paradox: Während man zur Tagesordnung übergeht, in der Hoffnung, dass es nicht schlimmer kommen wird, ahnen die meisten Europäer doch, dass genau das nicht geschehen wird.
Wahrscheinlich wird es wohl noch schlimmer werden.
Angst und Ratlosigkeit fressen sich daher weiter in die europäische Gesellschaft hinein.
Das ist die Stunde der Populisten. Sie wollen den Prozess der Abstumpfung und emotionalen Überforderung in etwas fundamental Anderes verwandeln: in unerbittliche Härte.
„Wir dürfen uns von Kinderaugen nicht erpressen lassen“ – das ist ein Satz, der die Zurichtung der Europäer zu herzlosen Wesen zum Ziel hat. Gesagt hat ihn vor einiger Zeit Alexander Gauland von der AfD.
Mit sicherem Instinkt versuchen die Rechtspopulisten, die Ratlosigkeit und Überforderung des bis dato in geschützten Verhältnissen lebenden Europäers in aggressive Abwehr umzuwenden.
Die Sprache, die sie sprechen, hat nicht – wie sie vorgibt – einen besseren Schutz europäischer Grenzen zum Ziel. Es geht um etwas anderes: Das angeblich so verweichlichte Europa soll zur Kampfmaschine werden.
Hart sein, das ist schick, nicht nur rechts außen. Teile des bürgerlichen Lagers berauschen sich an ihrer neu entdeckten Fähigkeit zur Unerbittlichkeit.
Der österreichische Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) ließ die Österreicher kurz vor der Schließung der Balkanroute wissen. „Es wird hässliche Szenen geben!“
Gemeint war: Es ist Zeit, dass wir noch kälter werden. Vor wenigen Tagen nun sagte Kurz, Europa könne sich doch an Australien ein Beispiel nehmen.
Australiens Regierung weist Flüchtlinge, die über das Meer kommen rigoros zurück. Menschen, die es trotzdem versuchen, schleppt die australische Marine auf entlegene Inseln, wo sie dann in Lagern interniert werden. Diese Politik – „No way!“ genannt – wird von Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert.
Kurz muss wissen, dass das australische Modell weder mit dem europäischen Recht noch mit der europäischen Realität vereinbar ist. Sein Vorstoß ist deshalb nur eine weitere rhetorische Einübung in Härte.
Die Versteinerung Europas soll vorangetrieben werden.
Einigkeit besteht darüber, dass die europäischen Grenzen besser geschützt werden müssen, und dass Europa die Krisen und Konflikte nicht ignorieren kann.
Dazu braucht es Entschiedenheit und Klarheit, nicht Mitleidslosigkeit.
Es ist weder die Zeit der großen Lösungen, noch ist es die Zeit der Ohnmacht, es ist die Zeit der kleinen Schritte.
Das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei, die Gespräche mit Libyen über ein ähnliches Abkommen, die beginnende Neuausrichtung europäischer Politik gegenüber Afrika gehören dazu. Das ist mühsam, das ist moralisch nicht einwandfrei, aber es ist das, was derzeit möglich und wirksam ist.
Es muss ein langer, schwieriger Weg gegangen werden, und ohne versteinertes Herz geht es sich leichter.