Die EU soll die Migration und die Flüchtlingsbewegung in den Griff bekommen. Das ist eine der zentralen Erwartungen der europäischen Bürger. Doch das wird nicht über Nacht geschehen, wohl auch nicht über Monate. Dazu ist Massenmigration viel zu komplex.
Es ist daher wenig überraschend, dass sich beim letzten EU-Gipfel des Jahres in dieser Frage nicht allzu viel bewegt hat. Man stritt sich mehr, als dass man sich einig war.
Das Thema Migration ist der zentrale Schlüssel, um den gegenwärtigen Zustand der Union zu verstehen.
Auf dem Gipfel Anfang September wurde in der Flüchtlingsfrage ein neuer Begriff eingeführt: „flexible Solidarität“. Das bedeutet im Kern, dass jedes Mitgliedsland so solidarisch sein kann, wie es will. Es ist aber im Prinzip zu nichts verpflichtet: Es soll Flüchtlinge aufnehmen, es muss es aber nicht.
Die flexible Solidarität ist ein Produkt des Jahres 2015, das die EU wie einen Schock erlebte. Hunderttausende Menschen kamen binnen weniger Wochen über de facto offene europäische Außengrenzen, vor allem nach Deutschland.
Die EU-Kommission stellte damals einen Plan vor, wonach 160.000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland auf die Mitgliedstaaten verteilt werden sollten. Das ideale Fundament dieses Plans war europäische Solidarität. Die Vorstellung also, dass die Mitgliedsländer sich in Zeiten der Not gegenseitig helfen und zur Seite stehen. Es stellte sich aber heraus, dass dem nicht so ist. Insbesondere die osteuropäischen Staaten weigern sich bis heute, die auf sie nach einem Quotenschlüssel entfallenden (geringen) Zahlen von Flüchtlingen aufzunehmen.
Die EU-Länder stehen sich nicht grundsätzlich bei, sondern nur bedingt: Das ist die ernüchternde Erfahrung aus der Flüchtlingskrise. Sie hat die Union ganz wesentlich verändert.
Sie ist keine uneingeschränkte Solidargemeinschaft mehr wie noch in der Eurokrise. Sie wird vielmehr nach und nach zu einer Art Plattform, auf der sich verschiedene Staaten bei verschiedenen Themen jeweils zusammentun.
Wir werden also in Zukunft wechselnde „Koalitionen der Willigen“ erleben. Frankreich, Deutschland und Polen dürften beispielsweise in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zusammenarbeiten, während sie in der Flüchtlingsfrage konträre Positionen vertreten. Dort hat sich Polen mit Ungarn und der Slowakei zu einer Koalition der Verweigerer zusammengeschlossen. In der EU-Krise stehen die reichen Länder des Nordens gegen die Schuldenländer im Süden.
Jedes Land entscheidet nur noch nach seinen nationalen Interessen – das könnte das Ergebnis sein.
War das je anders? Wahrscheinlich nicht. Aber man konnte glauben, dass die EU auf einem gemeinsamen Wertefundament steht. Das hat sich als Irrtum herausgestellt.
Die Migrationskrise hat es zutage gefördert.