ZEIT ONLINE: Die EU will weiterhin die Westbalkanstaaten in die Union aufnehmen. Das ist derzeit gewiss nicht populär. Wie wollen Sie gegenüber den Bürgern der EU begründen, dass weitere Staaten aufgenommen werden sollen?
David McAllister: Neue Beitritte zur EU stehen momentan und auf absehbare Zeit nicht an. Gleichwohl gilt es zu betonen, dass es sich bei den Staaten des westlichen Balkans – Serbien, Montenegro, Albanien, Mazedonien, Kosovo sowie Bosnien und Herzegowina – um europäische Länder handelt, die vollständig umschlossen sind von Mitgliedstaaten der Europäischen Union. An einem politisch und wirtschaftlich stabilen westlichen Balkan haben wir daher ein ureigenes Interesse. Für einen EU-Beitritt müssen diese Staaten jedoch die strengen rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen vollständig erfüllen. Bis dahin ist es für alle Beitrittskandidaten noch ein weiter Weg.
ZEIT ONLINE: In der letzten Zeit mehren sich die Krisenzeichen in dieser Region. Wie schätzen Sie die Lage ein?
McAllister: Die politische Situation in den Ländern des westlichen Balkans ist sehr kompliziert. Mazedonien wurde in der jüngeren Vergangenheit von schweren Korruptionsskandalen heimgesucht. Die jüngste Ankündigung des mazedonischen Präsidenten, einer möglichen Regierungskoalition die Zustimmung zu verweigern, ist besorgniserregend. In Bosnien und Herzegowina kommt es immer wieder zu Spannungen zwischen den drei Volksgruppen, den Bosniern, Kroaten und Serben, und das politische System scheint nur schwer reformierbar. In Albanien boykottiert die Opposition das Parlament. Die Verhandlungen über eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Serbien und Kosovo stocken. In Montenegro konnte am Tag der Parlamentswahlen im Oktober 2016 ein Putschversuch verhindert werden. Es gibt viele kleine Brandherde in der Region. Gleichzeitig gibt es auch immer wieder gute Nachrichten. Wichtige Reformen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit werden verabschiedet, die Wirtschaft wächst und Initiativen zur regionalen Kooperation werden gut angenommen.
ZEIT ONLINE: Hat die EU den Westbalkan vernachlässigt?
McAllister: Das finde ich nicht. Die Europäische Kommission verabschiedet genauso wie das Europäische Parlament jährliche Fortschrittsberichte über die Westbalkanländer. Die Europäische Union stellt Fördermittel in Milliardenhöhe zur Verfügung. Wo gewünscht und notwendig, vermittelt die EU, um bestehende Meinungsverschiedenheiten zu beseitigen. Zusätzlich gibt es wichtige Initiativen, die die Mitgliedstaaten ins Leben gerufen haben. So hat Bundeskanzlerin Angela Merkel den sogenannten Berlin-Prozess angestoßen. Das ist eine Form der multilateralen Zusammenarbeit in den Bereichen Verkehr, Energieversorgung und Jugendaustausch. Bei der Fülle an internationalen Konflikten und Krisen stand der westliche Balkan in den vergangenen Jahren allerdings nicht immer im Zentrum der europäischen Außenpolitik.
ZEIT ONLINE: Der Präsident der Republika Srpska, Milorad Dodik, betreibt die Spaltung von Bosnien Herzegowina. Müsste die EU darauf nicht viel härter reagieren?
McAllister: Im Februar hat das Europäische Parlament einen Bericht zur Situation in Bosnien und Herzegowina verabschiedet und die Entwicklungen in der Republika Srpska scharf verurteilt. Die undurchschaubaren Regierungs- und Verwaltungsstrukturen sowie auf der Tagesordnung stehende Provokationen machen das Land nur schwer reformierbar. Die Europäische Union versucht im Rahmen des sogenannten strukturierten Dialogs auf die Verantwortlichen in Banja Luka positiv einzuwirken – bislang noch mit wenig Erfolg.
ZEIT ONLINE: Man sagt, dass ein EU-Beitritt die einzige wirkliche Perspektive für diese Staaten ist. Stimmt das?
McAllister: Der positive Einfluss der Europäischen Union in der Region ist schon heute enorm. Zwischen 2007 und 2014 wurden im Rahmen des Instruments für Heranführungshilfe (IPA) EU-Finanzmittel in Höhe von 5,1 Milliarden Euro für die westlichen Balkanstaaten bereitgestellt und mittels nationaler und regionaler Programme zugewiesen.
ZEIT ONLINE: Kann der Westbalkan der EU auch verloren gehen?
McAllister: Es geht nicht darum, den westlichen Balkan zu „gewinnen“ oder zu „verlieren“. Derartige Denkmuster entsprechen nicht der Politik der Europäischen Union. Die Menschen vor Ort wollen eine stabile und friedliche Zukunft. Mit der Europäischen Union ist dies möglich.
ZEIT ONLINE: Wie beurteilen Sie die Rolle Russlands in der Region?
McAllister: Russland hat seine Präsenz auf dem westlichen Balkan enorm ausgebaut. Es gibt Desinformationskampagnen und gezielte Einflussnahmen, um eine bestimmte Stimmung zu befördern und Bilder zu erzeugen. So entfielen zwischen 2007 und 2014 über 1,3 Milliarden Euro der europäischen Fördermittel für den westlichen Balkan auf Serbien. Umfragen ergeben jedoch, dass eine Mehrheit der Serben davon ausgeht, dass Russland der größte Unterstützer ist. Dieser Eindruck kommt nicht von ungefähr.
ZEIT ONLINE: Glauben Sie, dass ein Rückfall in die kriegerischen neunziger Jahre möglich ist?
McAllister: Leider glaube ich, dass gewalttätige Konflikte in der Region auch heute nicht ausgeschlossen sind. In dieser Region kann ein kleiner Funke große Feuer entfachen.
ZEIT ONLINE: Wenn Sie an einen Beitritt dieser Staaten glauben, wann rechnen Sie damit?
McAllister: Das lässt sich nicht seriös vorhersagen und hängt einzig davon ab, ob und wann es den Ländern gelingt, die strengen Voraussetzungen für einen EU Beitritt zu erfüllen. Der Beitrittsprozess ist ein Marathon und kein Sprint. Die Länder des westlichen Balkans haben noch einen langen Weg vor sich. Sie brauchen unsere Unterstützung.