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Die Macht der Kleinen

 

Am 7. November 2001 ereignete sich eine Szene, an die man sich heute angesichts der Intervention in Libyen und des Abzuges der Nato aus Afghanistan erinnern sollte. Die Taliban hatten seinerzeit über Nacht Kabul verlassen. Der amerikanische Präsident George W. Bush trat triumphierend vor die Kameras. Doch gleichzeitig klangen seine Worte seltsam flehend. „Ich ermutige unsere Freunde über die Shomali-Ebene nach Süden vorzustoßen, aber auf keinen Fall in die Stadt Kabul selbst einzudringen!“ Die Freunde, von denen Bush sprach, waren jene der afghanischen  Nordallianz – die Waffenbrüder der USA gegen die Taliban.

Diese Nordallianz war ein loses Bündnis tadschikischer, usbekischer und schiitischer Kriegsherren. Sie hatten seit Jahren gegen die Taliban gekämpft, die nahezu ausschließlich Paschtunen sind. Ohne die Nordallianz hätten die Amerikaner die Taliban am Boden nicht besiegen können.

Die Paschtunen jedoch stellen das Mehrheitsvolk in Afghanistan. Sie hatten traditionell die wichtigsten Stellen des Staates besetzt. Bush fürchtete nun, dass die Nordallianz bei einer Einnahme Kabuls die wichtigsten Posten besetzen und die Paschtunen damit vergrätzen würde. Darum mahnte er zur Zurückhaltung. Und was geschah? Die Nordallianz kümmerte sich nicht um den Appell aus Washington, raste so schnell sie konnte nach Kabul, um dort alles, was nur möglich war, unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie drehte Bush eine lange Nase.

Die Folge war, dass die Paschtunen sich von Beginn an nicht mit diesem neuen, von den Amerikanern herbeigebombten Staat, anfreunden konnten. Auch wenn mit Hamid Karsai ein Paschtune der neue Präsident wurde. Er erschien vielen bloß als Marionette der Amerikaner und der Nordallianz. In den folgenden Jahren nahm die Entfremdung zu. Das war vielleicht nicht der entscheidende Grund, doch gewiss ein Faktor, der die Taliban wieder erstarken ließ. Bush wusste also sehr genau, warum er am 7. November 2001 seinen Appell formulierte. Er hatte Anlass zum flehentlichen Ton. Er war abhängig vom Verhalten der Nordallianz.

Das ist eine der wichtigen Lehren aus Afghanistan. Wer in einem fremden Land interveniert, der kann noch so viel Macht haben, er wird immer Partner vor Ort brauchen. Und diese folgen der eigenen Logik. In Afghanistan war es die eines Bürgerkrieges, der schon seit Jahrzehnten andauerte. Die Nordallianz wurde durch ihr Bündnis mit den USA mächtiger, als sie wirklich war. Doch wichtiger noch: Sie hatte sogar einen Hebel in der Hand, mit der sie die Politik der Supermacht konterkarieren konnte.

Dieses „Gesetz“ sollte man mit Blick auf die Libyen-Intervention vor Augen haben. Auch dort hat die Nato Verbündete vor Ort. Auch dort ist sie von ihnen abhängig, weitgehend. Und auch in Libyen haben die unterschiedlichen Gruppen eine eigene Agenda – die mit jener der Nato nichts zu tun haben muss.