Wikileaks wird nachgeahmt. Die neugegründete Transparency Unit des arabischen Fernsehsenders Al Jazeera hatte vor wenigen Tage umfangreiche Geheimdokumente zu den Nahost-Friedensverhandlungen der letzten Jahre veröffentlicht. OpenLeaks, die neue Seite des ehemaligen Wikileaks-Machers Daniel Domscheit-Berg, steht in den Startlöchern. Und nun tritt eine Berliner Plattform mit dem Namen GreenLeaks an.
GreenLeaks will sich auf die Veröffentlichung von Informationen fokussieren, die sich mit Missständen in den Kontexten Umwelt- und Klimaschutz beschäftigen.
GreenLeaks wird nicht die letzte neue Plattform sein, die neue Leakingsstrukturen anbietet. Monothematische Plattformen könnten dabei eine Chance sein, auch kleinere Themen sichtbar zu machen.
Eines ist jedenfalls offensichtlich: Die Welle der Leaking-Plattformen rollt.
UPDATE: Gerade gehen die ersten Nachrichten rum, dass auch die New York Times eine Struktur für Whistleblower anbieten wird. Die Welle rollt und wächst.
Wikileaks hat der Weltmacht USA auf’s Maul gehauen. Und zwar mehrfach. Mit Vorsatz. 2010 war ein Jahr digitaler Erdbeben. Und jetzt ist nichts mehr so, wie es noch ein Jahr zuvor war. Politik und Öffentlichkeit haben sich fundamental verändert. Es ist längst bekannt und tausendfach diskutiert, aber zum Start dieses Blogs muss es noch einmal ausgesprochen werden. Wikileaks hat mit der konzertierten Veröffentlichung der Afghanistanprotokolle, der Iraq War Logs und der US-Botschaftsdepeschen in Kooperation mit den Redaktionen der New York Times, des britischen Guardian, des deutschen Spiegel und einiger anderer unsere Einschätzung der aktuellen Kriege und der politischen Diplomatie ebenso gravierend verändert, wie unsere Vorstellung von investigativem Journalismus und (digitaler) Öffentlichkeit. Die ZEIT ONLINE Themenseite liefert hierzu einen Überblick.
Unterdessen sind nicht nur konventionelle Redaktionen aktiv, sondern auch Tausende Wikileaks-Sympathisanten im Netz. Sie haben die von Amazon vor die Tür gesetzte Wikileaks-Seite weltweit hundertfach gespiegelt, also auf Hunderte dezentrale Server kopiert. Unter CrowdLeak.net ist eines von vielen Crowdsourcing-Portalen ins Leben gerufen worden, um den Schwarm unabhängig von Zeitungsredaktionen in den Dokumenten suchen zu lassen. Auch Onlinespiele wie Cablegame und Co zeigen: Wikileaks hat eine breite Basis unter den Netzbewohnern.
Gleichzeitig steht die breite Öffentlichkeit der Fülle neuer Informationen über das schmutzige Gesicht des Krieges und der Radikalität des diplomatischen Tons jenseits des berühmten diplomatischen Parketts überwältigt, irritiert und verunsichtert gegenüber. Verblüfft warten Leser und User auf den nächsten großen Coup.
Das Ringen zwischen der US-Regierung und den Wikileaks-Aktivisten und ihren Sympathisanten setzt sich dabei im Hintergrund fort. Das US-Justizministerium sucht seit Monaten fieberhaft nach Gründen für eine Anklage Assanges, während die Geldflüsse an Wikileaks in den USA massiv behindert werden. Seit einigen Tagen ist nun öffentlich, dass der Dienstleister Twitter zur Herausgabe persönlicher Daten von tatsächlichen oder vermeintlichen Wikileaks-Akteuren gezwungen wurde. Die Justizbehörden sind offenbar noch nicht besonders weit in ihren Ermittlungen.
Aber der Geist will nicht mehr zurück in die Flasche. Eine juristische Handhabe gegen die Whistleblowingplattform ist mehr als fraglich. Der Freedom of Information Act sollte Wikileaks und Assange schützen. Auch wenn sich amerikanische Journalistenorganisationen vielfach distanziert haben, wie der Miami Herald berichtet:
Dazu kommen die täglichen neuen Storys aus den circa 250.000 Depeschen auf. Geheime Satellitenprogramme, Spekulationen über den Verlust der deutschen Führungsrolle beim Thema Klimawandelbekämpfung, Staatsgeheimnisse des Vatikan, versunkene Schätze …
Die Auseinandersetzung wird von Dauer sein. Die Fragen liegen auf dem Tisch und warten auf Antworten. Ist Whistleblowing eine neue Form des Journalismus? Gar überlebenswichtig für eine Demokratie im 21. Jahrhundert? Oder ist es eine digitale Form der Subversion, die das Funktionieren von Staat und Gesellschaft gefährdet? Mit einem Mann an der Spitze, den die Süddeutsche Zeitung im Versuch eines Psychogramms als Gegenverschwörer charakterisierte, den der berühmt berüchtigte amerikanische Radiomoderator Rush Limbaugh gerne am nächsten Baum hängen sehen würde, der als Terrorist gejagt werden sollte, wie es die schwer erträglich Sarah Palin nach der Veröffentlichung forderte und dem der streitbare Onlinepionier Jaron Lanier in einem grauenhaft reaktionären Essay gerade erst “digitale Selbstjustiz” vorwarf.
Das Jahr eins nach Wikileaks ist also gerade erst der Anfang. Wikileaks und die vielen verwandten Portale könnten Staat und Gesellschaft, Journalismus und Öffentlichkeit nachhaltiger verändern, als wir es uns heute vorstellen können.
P.S.: auch der Autor weiß, dass wir nicht im tatsächlichen Jahr eins nach Wikileaks leben. Das Whistleblowingportal wurde ja bereits 2006 ins Leben gerufen. Aber für das digitale Whistleblowing im Allgemeinen und Wikileaks im Konkreten war keines der letzten Jahren so bedeutend wie das letzte. Ein Quantensprung.