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Zeit, über den Osten zu sprechen

 

Ostdeutschland, ernsthaft? Überall Kriege und Krisen und ZEIT ONLINE startet eine Reihe über – den Mauerfall?

Ja. Es wird höchste Zeit zu reden, kurz vor dem 25. Jahrestag. Die Deutschen haben dieses Geschenk der Geschichte hingenommen wie ein Werbepräsent. Und vergaßen dabei, dass die Einheit nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine intellektuelle Aufgabe war.

Dass sich inzwischen etwas verändert hat, merkten die meisten erst daran, dass die Verbündeten in der Welt inzwischen mehr von Deutschland erwarten: eine Vorstellung davon, wie Europäische Union aussehen könnte, das Internet, globale Umweltpolitik. Schaut man sich die Umfragen an, scheinen die meisten Deutschen aber eher ihre Ruhe zu wollen. Wie damals, vor 1990. Ist das der Grund, warum die meisten Politiker in ihren Einheitsreden vor allem von der Kontinuität der Zustände schwärmen, die sich angeblich mehr und mehr auch im Osten ausbreiten? Dass in den Medien immer wieder dieselben sedierenden Bilder von Gorbatschow und Genscher zu sehen sind?

Viel wichtiger ist, was seitdem geschehen ist. Oder auch nicht. Deutschland ist in vielerlei Hinsicht noch immer gespalten. Wir werden in den nächsten Wochen zeigen, dass die DDR sich auf vielen statistischen Landkarten nach wie vor abbildet. Das betrifft die Lebenserwartung, Konsumgewohnheiten und Kinderbetreuung. Aber auch Einstellungen zu vielen wichtigen gesellschaftlichen Fragen.

Ost- und Westdeutsche haben ungleichzeitig gelebt in den vergangenen 25 Jahren. Als in den neunziger Jahren Langeweile die Feuilletons bestimmte, da regten sich in Ostdeutschland Zweifel am System. Zweifel, die den Nazimeuten das Gefühl gaben, auf die schweigende Zustimmung der meisten zählen zu können. 
Als sich mit den Hartz-Gesetzen die Angst vorm Entstehen einer Unterschicht ausbreitete, war diese im Osten schon gefestigt. Als die Eurokrise bis dato ungekannte Existenzängste auslöste, zuckten die Ostdeutschen mit den Schultern. Das kannten sie längst.

Wir wollen mit unseren Reportagen zeigen, wie die Mentalitätslandschaften aussehen, die im Osten fast unbeobachtet entstanden sind. Viele erhoffen sich, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis sie verschwinden. Das Ziel der Deutschen Einheit war von Anfang an die innere Einheit, bis hinein ins Denken.

Warum eigentlich? Millionen Ostdeutsche haben Diktaturerfahrung, sie wissen, was es bedeutet, wenn Dinge nicht ausgesprochen werden dürfen. Sie verstehen vielleicht sogar besser als die Westdeutschen, was es bedeutet, wenn ein Sicherheitsapparat sämtliche elektronische Kommunikation überwacht. Warum also sollte es nicht weiter Ostdeutsche geben? Warum nicht ostdeutsche Parteien, ostdeutsche Zeitungen, ostdeutsche Kultur?

Vielleicht ist es ein Glück, dass auch viele Junge sich als Ostdeutsche begreifen. „Tut doch nicht so, als sei als alles in Ordnung“, rufen neun von ihnen in ihrem Manifest bei ZEIT ONLINE. Ihre Erfahrungen in diesem neuen Deutschland sind unterschiedlich, doch eines verbindet sie: Es ist nicht einfach, das Ostdeutschsein hinter sich zu lassen. Dazu ist zu viel passiert in den vergangenen 25 Jahren. Beginnen wir, darüber zu sprechen.