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Handelt es sich wirklich nur um Einzelschicksale?

 

Vor einigen Tagen berichtete Lisa Rank über Misshandlungen in der DDR-Kinderkrippe. Ihr Text löste Widerspruch aus. Andere Leser berichten ähnlich Erschütterndes.


Die Debatte um die neun jungen Ostdeutschen löste gewaltige Emotionen, aber auch viele interessante Debatten aus. Am schärfsten wurde der Text von Elisabeth Rank diskutiert, die über Misshandlungen in der DDR-Kinderkrippe berichtete. Wir haben hier eine Auswahl von Kommentaren zusammengestellt, die sich mit der Frage befassen, ob sich solche Erlebnisse verallgemeinern lassen. Einige Leser beschreiben eigene erschütternde Erfahrungen.

Uns selbst haben Lisa Ranks Schilderungen und die Reaktionen darauf zu der Frage gebracht, ob und wie wir dieses Kapitel noch einmal redaktionell darstellen sollten.  Dieses Thema gehört zu dem weiten Feld unzureichend aufgearbeiteter DDR-Geschichte. Und vielleicht zeigt es auch exemplarisch, wie schwer es ist, das Thema DDR zu diskutieren.

sonneleipzig
Sehr befremdlich fand ich den Text von Elisabeth Rank. Auf der einen Seite kann ich mich an kleine Episoden erinnern die in eine ähnliche Richtung gingen. Ja, solche Episoden gab es. Essen, das man nicht mochte und trotzdem essen musste. Aber prägend waren diese Einzelepisoden nicht. Es tut mir leid, dass die Autorin solch sadistische Erfahrungen machen musste: Jedoch muss ich betonen (auch wenn das die Autorin schon oft gehört hat und nicht verstehen kann) diese sadistischen Methoden waren Einzelfälle, nicht der Standard.

micr0bi
Da versucht Frau Rank, welche als 5-jährige die Wende miterlebt hat, der Welt zu beweisen, dass Ostalgie schlecht sei und erklärt ihre Erfahrungen für allgemein gültiges Erziehungsstatut der DDR. Darüber kann ich nur müde lächeln. So traurig und schrecklich das von ihr Erlebte auch ist und so sehr wir uns auch bemühen müssen, dass das nie wieder vorkommt, aber auch hier sollte man differenzieren. Ich habe das nie erlebt, ich war gerne Pionier, ich hatte eine wunderschöne Kindheit ohne das meine Eltern in der Partei waren und das wichtigste ist – ich bin damit keine Ausnahme!

Lusatia
Elisabeth Rank, war voll am Thema vorbei. Kein Jahr vergeht ohne Problemfilm zum Thema DDR, am besten mit Veronika Ferres, und die stört das angebliche verschweigen und glorifizieren. Was sie beschreibt, mag stattgefunden haben wie auch in anderen Ländern, also als Ausnahme. Sie bedient die gängigen Klischees mit maßloser Übertreibung.

Bremser
Die Liegen bestanden aus einer Hartfaser-Platte mit Holzrahmen und einklappbaren Holzstützen an Fuß- und Kopfende. Es gab keine Matratzen, nur eine dünne, kratzige Decke und ein kleines Kopfkissen. Die Liegen waren im großen Saal geometrisch wohlangeordnet aufgestellt. Sie mussten immer ordentlich ausgerichtet dastehen. Es war mucksmäuschenstill. Alle Kinder schliefen oder stellten sich schlafend, um nicht aufzufallen. Das einzige Geräusch war das Rascheln hinter mir am Tisch, wenn die Erzieherin die Zeitung umblätterte.

Ich stand die ganze Mittagsschlafzeit zwischen dem Tisch und den Liegen. Ich hatte an einer Schnur einen Bierdeckel umgehangen bekommen. Auf dem stand „BUMMELORDEN“. Das war meine Strafe für wiederholtes Bummeln beim Mittagessen.

Als meine Mutter mich an diesem Tag zur üblichen Zeit abholen wollte, hieß es: „Der …….. wird jetzt noch nicht abgeholt, der hat wieder nicht aufgegessen.“Diesen Spruch haben meine Eltern öfters zu hören bekommen, sagten sie mir vor ein paar Jahren, als ich ihnen vom Bummelorden erzählt habe. Sie hatten bis dahin keine Ahnung. Ich hab es nie erzählt.

[…]

Ich hatte als Kind öfters Nasenbluten. Einmal saß ich im Kindergarten beim Mittagessen und das Blut tropfte auf den Teller mit Suppe/Eintopf. Ich musste den Teller trotzdem aufessen.

Sie mögen vielleicht andere, bessere Erfahrungen gemacht haben. Aber ich finde es unerträglich, wenn Sie deshalb Frau Rank als Lügnerin hinstellen.

Tilman Steffen
Welche Agenda hat eigentlich Elisabeth Rank, wenn Sie den DDR-Kindergarten beschreibt, als sei er ein Mix aus Konzentrationslager und Abu Ghraib? Und diese nicht mal im Ansatz eingeordneten Grauens-Szenen mit dem Statement abbindet, sie wolle keine Verklärung?

Darf ich einwenden, dass solche Vorkommnisse ein Fall für die Polizei gewesen wären? Misshandlung von Kindern war sicher auch in der DDR strafbar. Und das dürfte auch den Eltern bekannt gewesen sein.

Ich würde gern differenziert über Ostdeutschland diskutieren und was die Menschen ost- und westdeutscher Herkunft verbindet und trennt. Elisabeth Rank hat dafür mit ihrem Krimi keine Anregung geliefert. Sie polarisiert nicht mal, sie verärgert nur.

-Aki-
Frau Rank hat an keiner Stelle behauptet, dass die von ihr geschilderten Vorkommnisse in der DDR Standard gewesen seien;  Sie hat von Erscheinungen berichtet, die es dort gegeben hat, und rückt damit das romantisierende Bild einer auf politischer Ebene zwar diktatorischen, aber auf der alltäglichen Ebene dafür umso humaneren Gesellschaft in ein realistischeres Licht.

1984

Ich bin sehr froh über den Beitrag von Frau Rank. Es ist auch mein Thema.
Ich habe ähnliches erlebt. Handelt es sich wirklich nur um Einzelschicksale? Es interessiert mich brennend wie vielen Kindern es in der ehemaligen DDR genauso erging, eine Erhebung hierbei ist aber schwierig, denn so furchtbare Erlebnisse in früher Kindheit werden oft verdrängt.

So konnte ich mich erst als Erwachsene erinnern:

+Jeden Tag trinke ich meine Milch, ich ekel mich davor, sie hat eine dicke Pelle oben drauf, ich entferne die Pelle und stürze die Milch herunter, danach beiße ich schnell in meine Stulle. Ich habe nie danach gefragt ob ich die Milch stehen lassen darf, wahrscheinlich gab es diese Möglichkeit wohl nicht.

+Es ist nachmittags, die anderen spielen schon, ich sitze immer noch an meinen Weintrauben, ich mag die Kerne nicht mitessen und muss sie rauspulen, aber ich muss aufessen.

+Wir waren duschen im Keller, sind nackt und nass, die Erzieherin: Wir zählen jetzt bis zehn, wer dann nicht angezogen ist wird eingesperrt. Wir Kinder machen schnell.

+Ich spiele, die anderen Kinder und Erzieherinnen bilden ein Kreis und fassen sich an den Händen. Komm schnell, wir wollen ein Lied singen! Ich komme aufgeregt und voller Freude und schließe den Kreis. Erst jetzt sehe ich den kleinen Jungen mit nasser Hose, der mich entsetzt anschaut. Es wird: Schäm dich, schäm dich, alle Leute sehen dich, gesungen.

Ich bin auch Jahrgang 1984, erlebte nur 5 Jahre DDR-Diktatur, versuchte nicht zu fliehen, war nicht im Gefängnis und werde mich trotzdem den Rest meines Lebens fragen ob die letzen Jahre der DDR verantwortlich für mein Schicksal sind. Ich leide unter starken Angststörungen, hierzu gehört die Angst vor anderen einzunässen und eine Phagophobie, die Angst feste Nahrung zu verschlucken.

In einigen Kommentaren wurde gesagt, dass es Kindesmisshandlung (und auch Zwang und seelische Gewalt, Beschämung, sind Misshandlungen) ja auch im Westen gab oder auch von Eltern ausgeübt wurde, zumindest nichts mit dem System der DDR an sich zu tun hätte.

Das sehe ich anders, das Ziel der DDR war es ja auch schon Kleinkinder zu sozialistischen Persönlichkeiten zu erziehen. Das Kind sollte sich ins ‚Kinderkollektiv‘ einfügen und alle Kinder sollten sich gleich verhalten. Ich weiß nicht wie viele gute Erzieherinnen es gab, aber die weniger einfühlsamen haben diesen Erziehungsauftrag vielleicht als Erlaubnis genommen sich so zu verhalten und Regeln durchzusetzen.

Wenn Eltern kamen um ihre Kinder abzuholen und diese noch aßen, mussten die Eltern warten. Eltern, die ihre Kinder nicht in die Krippe gebracht haben wurden schief angeschaut. Das gehört doch alles zusammen.