Die Unrechtsstaatsdebatte bringt nichts, Ost und West müssen über anderes streiten. Und vergesst nicht das Feiern! Neun Ergebnisse unseres Mauerfallprojekts.
1. Es gibt Ostdeutsche, es gibt Ostdeutschland.
Es klingt banal, ist aber hochumstritten: Das Thema Ost-West hat sich nicht erledigt. Im Gegenteil: Es ist und bleibt für viele Deutsche bedeutsam und emotional. Das zeigt sich schon am großen Interesse und den vielen Reaktionen unserer Leser.
Es ist auch ein Trugschluss, dass das Thema für die Jungen keine Rolle mehr spielt. Schauen Sie sich dieses Manifest an oder lesen Sie die Umfragedaten, die das Gesis-Institut 2010 und 2012 unter jungen Ostdeutschen erhob.
Die meisten Ostdeutschen, sagt der Soziologe Elmar Brähler, sind erst nach der Wende zu Ostdeutschen geworden. Das betrifft auch viele Junge. Die Erfahrung des Zivilisationsbruchs, die allgegenwärtige ökonomische Bedrohung, das Gefühl kultureller Marginalisierung haben bei vielen ein ostdeutsches Bewusstsein geschaffen – was nicht heißt, dass sie sich nicht gleichzeitig auch als Deutsche empfinden. Akzeptieren wir es, wie wir akzeptieren, dass es Bayern mit seiner eigenen politischen Kultur und Identität gibt.
2. Es gibt Westdeutsche
Auch wenn viele Westdeutsche nie auf die Idee kommen würden, sich als solche zu bezeichnen: Es gibt sie, und auch ihnen ist 1989/90 ihr Land verloren gegangen. Ein besseres als die DDR. Wie gut, dass sich bei uns Daniel Erk und Christoph Schröder zu Wort meldeten – hoffentlich tun es noch mehr.
Erzählt, was Euch aus der alten Bundesrepublik fehlt. Könnte ja sein, dass Ost- und Westdeutsche sich nach denselben Dingen sehnen.
3. Es gibt viele andere in Deutschland
Jeder fünfte Deutsche hat einen Migrationshintergrund: Die früheren Gastarbeiter, die Spätaussiedler, die Zuwanderer aus den Balkanstaaten und viele weitere. Auch sie haben ihre guten oder weniger guten Erfahrungen als Neue in diesem Land gemacht. Und viele von ihnen fühlen sich noch weniger verstanden als die Ostdeutschen.
4. Der Mauerfall und die Wiedervereinigung sind politisch
Die Wiedervereinigung ist nicht abgeschlossen.
Für viele Deutsche bedeutete sie 1989 das Versprechen auf ein neues, gemeinsames Land. Doch nie wurde auch nur erwogen, einen gesamtdeutschen Neubeginn zu wagen. Das bedeutet auch, dass heute viele Fragen zur deutschen Verfasstheit umso stärker drängen: Wie soll man den Vertrauensverlust in die Institutionen stoppen? Wer außer den Gewählten hat Macht in unserer Gesellschaft? Welche Rolle soll Deutschland in der Welt spielen? Deswegen brauchen wir …
5. Mehr Nachdenklichkeit
In der Politik ist nirgends jemand zu sehen, der bereit ist, in der Deutschen Einheit mehr als ein quasisakrales Ereignis zu sehen. Ein Ereignis, das nur gefeiert werden soll und nicht diskutiert. Das Mauerfall-Jubiläum wird in einer Lichtshow mit globaler Ausstrahlung aufgehen, hinter der alle Widersprüche verblassen. Wie sehr wir uns damit unterfordern.
Irgendwie kennt man diese ostentativ positive Wahrnehmung der Dinge. Sie begegnet einem auch, wenn Bundespräsident Gauck die deutsche Gegenwartsdemokratie preist, wissend, dass inzwischen alle Deutschen ausgespäht werden. Oder die Politik das europäische Deutschland feiert, obwohl Europa nach dem britischen EU-Referendum und den französischen Wahlen 2017 vielleicht zerfällt.
Dagegen muss eine Gruppe mit Strafverfolgung rechnen, die die Gedenkkreuze der Mauertoten entwendet, um auf den Widerspruch aufmerksam zu machen, dass inzwischen neue Mauern um Europa herum stehen. Dabei hat diese Aktion den Mauerfall endlich in einen politischen Kontext gestellt. Sie hat die Frage aufgeworfen, was wir aus dem großen Glück gelernt haben, das den Deutschen wiederfuhr.
Verlassen wir die Komfortzone. Wir sind weder am Ende der Geschichte angelangt, noch haben die Deutschen alles richtig gemacht. Im Gegenteil: Wir verdrängen viele neue deutsche Konflikte. Werden die Jungen dagegen aufbegehren, dass sie immer mehr Lasten tragen müssen? Was wird aus den Gegenden in Ost und West, in denen es bald keine Schulen und Polizeiwachen mehr gibt?
6. Der Mauerfall gehört nicht uns allein
Die Straßen Berlins sind dieser Tage voll von Menschen aus dem Ausland, die teilhaben wollen an der Erinnerung an das letzte große gute Ereignis der Weltgeschichte. Zu Recht. Sie gehören zu dieser Geschichte. Auch ihnen gehört sie.
So wie die Einheit nie ohne die mehr oder minder wohlwollende Zustimmung der damaligen Großmächte und die Proteste in den osteuropäischen Staaten gekommen wäre, so sind wir heute verbunden mit dem, was um uns herum geschieht. Es wird kein prosperierendes Deutschland ohne ein funktionierendes Europa geben. Was im Mittleren Osten und Afrika geschieht, geht uns nicht nur deswegen an, weil die Zahl der Flüchtlinge immer größer wird.
7. Der Streit über das Wort „Unrechtsstaat“ blockiert alles
Es ist wie eine Eintrittskarte, die Ostdeutsche lösen müssen, bevor sie über Ost und West diskutieren dürfen: Siehst auch Du die DDR als Unrechtsstaat? So in etwa muss es im Westen gewesen sein, als in den Siebzigern Briefträger nach ihrem Bekenntnis zu freiheitlich-demokratischen Grundordnung gefragt wurden. So muss es Muslimen gehen, die ständig gefragt werden, ob sie Demokraten sind.
Das kann einen trotzig machen. Die DDR war eine verabscheuungswürdige Diktatur, die fast niemand wiederhaben will. Wenn wir aber warten müssen, bis alle Ostdeutschen einmal „Unrechtsstaat“ gesagt haben, werden wir noch 2024 genauso unnütz streiten wie heute. Ganz davon abgesehen, dass es leichter ist, „Unrechtsstaat“ zu sagen, als zu verstehen, welche Toleranz eine funktionierende Demokratie jedem von uns abverlangt.
8. Viele Westdeutsche wissen zu wenig über die DDR
Wir haben den Fokus unseres Mauerfallprojektes #de25 bewusst auf die Nachwendezeit gelegt, weil wir glauben, dass sie die interessantesten Erkenntnisse über die Deutsche Einheit bergen. Gleichzeitig waren wir müde, wie an jedem anderen Wende-Jahrestag wieder die alten Bilder von Gorbatschow und Genscher zu zeigen.
Eine nichtrepräsentative Umfrage unter unseren westdeutschen Lesern aber zeigte uns: Viele von ihnen haben in der Schule fast nichts über die DDR gelernt. Das muss sich ändern. Wie sollen wir uns sonst je sinnvoll austauschen?
9. Und jetzt lasst uns feiern!
Zweieinhalb Monate haben wir bei ZEIT ONLINE auf Widersprüche und Probleme der Wiedervereinigung hingewiesen. Das darf aber nicht überdecken, wie froh und dankbar sind über das große Glück, das wir vor 25 Jahren erfuhren. Lasst uns trinken darauf. Und gleich morgen weiter darüber streiten, was Freiheit bedeutet.