Was hat die Filmszene der dreißiger Jahre mit YouTube gemeinsam? Eine ganze Menge, schrieb vergangene Woche der amerikanische Filmhistoriker Tino Balio in einem Artikel in der LA Weekly. Seiner Meinung nach macht die Videoplattform gerade eine ähnliche Entwicklung durch wie die frühen Hollywood-Studios. Damals wie heute waren zur Professionalisierung des Mediums möglichst viele exklusive Inhalte notwendig, die von meist jungen und unerfahrenen Produzenten stammen. Und wie einst in Hollywood wird auch bei YouTube der ein oder andere Produzent schlicht übers Ohr gehauen. Man könnte meinen, es sei das Lehrgeld, das die Macher für ein größeres Publikum bezahlen müssen. Doch so einfach ist es dann doch nicht.
Im Mittelpunkt der Diskussion stehen die sogenannten YouTube-Netzwerke. Sie bilden einen Zusammenschluss vieler einzelner Kanäle. Wie ein Filmstudio oder Fernsehsender bündeln sie unterschiedliche Inhalte und übernehmen die Funktionen, mit denen die meist jungen Produzenten nicht vertraut sind: Talentförderung, Produktionshilfe, die Klärung von Rechten und die zielgruppengerechte Vermarktung. Für diese Leistungen und die im Idealfall erlangte Reichweitensteigerung behalten sie einen Teil der Werbeeinahmen ein. In Deutschland zählt das Kölner Unternehmen Mediakraft zu den erfolgreichsten dieser Netzwerke. Mehr als 150 Kanäle zählt es zu seinem Portfolio, die insgesamt mehr als 100 Millionen Abrufe im Monat generieren.
Im Vergleich zu den USA sind diese Zahlen gering. Das auf Videospiele spezialisierte amerikanische Netzwerk Machinima etwa unterhält inzwischen über 5.000 Partner und kam damit im Dezember auf rund 2,6 Milliarden Abrufe pro Monat. Bei Maker Studios sind es 2 Milliarden Abrufe mit 3.000 Partnern. Zu ihren Investoren zählen Großunternehmen wie Google oder Time Warner, die Millionenbeträge in die Netzwerke pumpen. Doch genau diese beiden großen Netzwerke sorgten in den vergangenen Monaten vermehrt für negative Schlagzeilen.
Knebelverträge und schlechte Konditionen
Im Mai vergangenen Jahres gab ein junger Brite namens Ben Vacas, ein als „Braindeadly“ bekannter Videospieler, in einem kurzen – inzwischen gelöschten – Video seinen Abschied von der Plattform Machinima bekannt. Die Entscheidung kam, nachdem er herausgefunden hatte, dass das Netzwerk per Vertrag über die Rechte an seinen Videos verfügte – und zwar für immer. Was auch immer Vacas unter seinem Namen auf YouTube hochladen würde, wäre ein Teil des Machinima-Netzwerkes und damit dessen Kontrolle unterworfen.
Die YouTube-Szene reagierte prompt. In zahlreichen Videoantworten meldeten sich Partner von Netzwerken, die ähnliche Erfahrungen mit Knebelverträgen und schlechten Konditionen bei der Verteilung der Werbeeinnahmen machten. YouTuber wie der Belgier Athene, der selbsternannte „beste Gamer der Welt“, drohte aus Solidarität damit, Machinima ebenfalls zu verlassen. Andere wiesen dagegen nur hämisch darauf hin, dass man vor dem Unterzeichnen besser das Kleingedruckte lesen sollte.
Probleme mit dem Kleingedruckten hatte im Oktober auch Ray William Johnson. Der 31-Jährige ist einer der erfolgreichsten YouTuber aller Zeiten. Mit seiner Show =3 („Equals Three“), in der er virale Videos auf die Schippe nimmt, hat er es inzwischen auf fast sieben Millionen Abonnenten gebracht. Es wird vermutet, dass Johnson als einer der ersten Menschen überhaupt inzwischen über eine Million US-Dollar mit Werbeeinnahmen auf YouTube eingenommen hat.
Der Erfolg weckt Begehrlichkeiten. Wie Johnson im Dezember schrieb, kontaktierte ihn Maker Studios zu Beginn des Jahres 2012 mit der Aufforderung, einen neuen Vertrag zu unterzeichnen. Dieser spräche dem Netzwerk eine höhere Beteiligung (40 Prozent) an den Werbeeinnahmen und die Hälfte der Urheberrechte von Johnsons YouTube-Kanal zu. Johnson lehnte ab, was Maker dazu brachte, die Produktion eines geplanten Musikalbums von Johnson zu stoppen. Im Oktober entschied sich Johnson schließlich, das Netzwerk zu verlassen, um eine eigene Produktionsfirma zu gründen. Dabei gibt es jedoch ein Problem: Maker ist noch immer im Besitz von Johnsons Google-AdSense-Account, über den die Werbeeinnahmen laufen. Das Studio betont, dass man Johnson hätte ziehen lassen und sich an die Vertragsrechte halte, die mit einer Kündigung einhergehen. Inzwischen kommunizieren beide Seiten nur noch über ihre Anwälte.
Die Kritik an Netzwerken wächst
Von solchen Erfahrungen weiß Christoph Krachten aus der deutschen YouTube-Szene nichts. Der Chief Operating Officer von Mediakraft glaubt, dass die Partner in Deutschland besser geschützt seien: „In Deutschland dürfen Verträge eine Laufzeit von maximal fünf Jahren haben. Bei uns ist die Vertragsdauer deutlich geringer, das unterscheidet sich aber von Partner zu Partner“, sagt Krachten auf Nachfrage von ZEIT ONLINE. Und auch die Rechte seien klar definiert: „Wir bekommen lediglich die Nutzungsrechte für die Onlinenutzung übertragen“, sagt Krachten, „die Urheberrechte bleiben immer bei den Urhebern, und nach Ablauf des Vertrags gehen auch die Nutzungsrechte an sie zurück.“
Und doch wächst die Kritik an den YouTube-Netzwerken und an ihrer Mittlerrolle im sich stetig weiter entwickelnden YouTube-Ökosystem auch in Deutschland: Unter dem Titel „Mein YouTube Netzwerk bringt mich um“ diskutierte etwa der YouTuber Videoamt im November in einem Google Hangout mit anderen Nutzern über den Sinn und Unsinn von Netzwerken. Wirklich schlechte Erfahrungen kamen dabei zwar nicht zusammen, wohl aber wurden kritische Fragen diskutiert, was denn ein Netzwerk für seine Partner leisten solle, ob die Netzwerke tatsächlich die häufig minderjährigen Produzenten ausnützten? Ob YouTuber, die bereits über viele Fans verfügen, überhaupt noch ihre Hilfe benötigten? Steven Oh vom einflussreichen Politik-Kanal The Young Turks sagte jüngst: „YouTube [war] ursprünglich ein Ort für „wilden Individualismus […], inzwischen ist es immer schwieriger, Erfolg ohne die Unterstützung großer Unternehmen zu haben.“ Und auch Paul Tassi von Forbes glaubt, dass die Professionalisierung YouTubes es immer schwerer für den „kleinen Mann“ mache, entdeckt zu werden. Deshalb nähmen junge YouTuber auch lieber einen schlechten Vertrag als gar keinen an.
Frisst die YouTube-Revolution also tatsächlich ihre Kinder?
Die Szene wehrt sich
Nein, sagt der US-Anwalt David Lisi, der sowohl YouTuber als auch Netzwerke in Rechtsangelegenheiten vertritt. Er sagt zwar wie Tino Balio, dass viele Netzwerke im Rahmen des schnellen Aufstieges ähnliche Geschäftspraktiken wie die Filmstudios aus Hollywood adoptiert hätten, diese sich aber auf Dauer nicht durchsetzen würden: „Die jungen Videomacher sind mit dem Internet aufgewachsen, sie senden nicht nur an ein Publikum, sondern schauen sich gegenseitig an, sind Fans voneinander und kommunizieren miteinander. Wie eine Gewerkschaft können sie kollektiv in Aktion treten.“
YouTube ist im Gegensatz zur Filmszene kein exklusiver Kreis. Auch wenn eine Professionalisierung der Inhalte stattfindet und etablierte Filmunternehmen wie Disney und Time Warner, Ufa und Endemol inzwischen eigene Originalkanäle betreiben, sind viele der bekanntesten Produzenten immer noch die jungen Enthusiasten, die mit nicht viel mehr als einer Videokamera und einer guten Idee begannen. Wie die Proteste im Fall von Ben Vacas und Ray William Johnson zeigten, sprechen sich unlautere Praktiken schnell herum.
Außerdem sind anders als im Film- und TV-Bereich die Macher nicht auf ein Studio oder Netzwerk angewiesen, um an ein Publikum zu gelangen. Im Gegenteil: Die Produzenten haben die Macht, die Netzwerke verstärken sie allenfalls noch. Schon deshalb dürften sie daran interessiert sein, in einen Dialog mit ihren Partnern zu treten.
Im Fall von Machinima hat sich bereits etwas getan. Seit Beginn des Jahres sind sämtliche Verträge des Netzwerks nur noch auf drei Jahre befristet. Ben Vacas und Athene sind schon weitergezogen: Sie gehören nun der Union for Gamers an, einem neuen Netzwerk, das sich für faire Verträge und Konditionen einsetzen möchte.