Als er das erste Mal Shore rauchte, war er gerade 15 Jahre alt. Shore ist in der Drogenszene ein anderes Wort für Heroin. Es waren die späten Achtziger und das Zeug ebenso angesagt wie leicht zu bekommen. Er bekam es vom großen Bruder „des Polen“, eines Schulfreunds. Was anschließend folgt, könnte eine typische Drogengeschichte sein. Der Abhängigkeit folgen Beschaffungskriminalität, Gefängnis, Entzug, Rückfall und schließlich die Läuterung.
Doch Shore, Stein, Papier ist keine gewöhnliche Sendung – und „er“, der Erzähler kein gewöhnlicher Junkie. Das zeigt schon das Format: Shore, Stein, Papier ist eine Sendung des YouTube-Kanals zqnce (gesprochen „Sequence“). Immer mittwochs gibt es eine neue Folge, die zweite Staffel ist vor kurzem gestartet.
Den Namen des inzwischen etwa Vierzigjährigen erfährt man in den bis heute mehr als 60 Episoden nicht. Auch keine Details zu seinem heutigen Leben. Wie er lebt, ob er arbeitet und clean ist? Diese Fragen bleiben offen – jedenfalls bislang. Es geht vielmehr um seine Vergangenheit: Um seine Jugend im Saarland und in Baden-Württemberg und seinen anschließenden Umzug nach Hannover. Der Vater war zu diesem Zeitpunkt längst weg, der neue Freund der Mutter macht dem 13-Jährigen klar, er sei unerwünscht. Auf einer Party probiert er das braune Pulver aus, und als er von einem erfahrenen Junkie später erfährt, dass es sich bei Shore um Heroin handelt, raucht er schon regelmäßig. Die nächsten Jahre verbringt er zum Teil auf der Straße, sein Leben dreht sich um Diebstähle, Einbrüche und den nächsten Rausch. Mit 18 landet er das erste Mal im Gefängnis.
Aufklärung und Unterhaltung gleichermaßen
Der namenlose Protagonist erzählt diese Geschichte, als würde er mit einem alten Freund reden. Er sitzt stets an einem Tisch, mal in der Küche, mal im Wohnzimmer, mal mit einem Joint, mal mit einer Zigarette in der Hand. Die offensichtlich am Stück aufgenommenen Gespräche sind grob zu Themenblöcken zusammengeschnitten. Die einzelnen Episoden gehen häufig ineinander über. Dabei spricht er nicht ausschließlich von der Drogensucht, auch wenn sie alles andere bestimmt. Stattdessen entspinnt sich eine Geschichte bizarrer Begegnungen. Es geht um Susi und Klein Totti, um LSD-Trips und Pralinenraub. Immer wieder raumgreifend gestikulierend erzählt er seine Erlebnisse, die mal heiter, mal bedrückend sind, und bisweilen an die bildhaften Junkie-Erzählungen Jörg Fausers erinnern.
Auch wenn Shore, Stein, Papier dank des Erzählers meist humorvoll ist, handelt es sich keinesfalls um eine Apologie des Drogenkonsums. Schon nach wenigen Episoden wird deutlich, dass hier jemand spricht, bei dem die Sucht ihre Spuren hinterließ, körperlich wie psychisch. Selim Oezdogan beschreibt im Drogerie-Blog der taz den Protagonisten treffend als jemanden, der sich „nicht als Opfer der Umstände darstellt, keine Rechtfertigungen und Ausreden sucht, aber auch nicht von Schuld und Scham niedergedrückt ist.“ Der Mann ist – und dieses Wort ist im Zeitalter von Scripted Reality angebracht – authentisch. So bietet Shore, Stein Papier sowohl gute Unterhaltung als auch gute Aufklärung. Eine Kombination, die im Programm der TV-Sendeanstalten schwer vorstellbar wäre.
Innovatives Format
Es sind solche Formate, mit denen sich Webvideos vom klassischen Programm absetzen können. Sie sind einfach und direkt, ohne große Vorgeschichte und konstruierte Rahmenerzählung. Der Protagonist und nicht das Thema stehen im Mittelpunkt. Genau mit diesem Vlog-Format – eine Person spricht in eine Kamera – begannen viele der erfolgreichsten YouTuber. Nicht alle von ihnen hatten ähnlich Spannendes zu erzählen. Unter den zahlreichen Comedy- und Lifestyle-Formaten setzt Shore, Stein, Papier einen ernsthaften Kontrapunkt.
Die Sendung ist auch für den YouTube-Kanal zqnce ein Glücksfall. Ende November als eines von zwölf deutschen Originalprogrammen gestartet, hat der Kanal der Produktionsfirma Redframe inzwischen rund 35.000 Abonnenten und fast drei Millionen Abrufe. Das ist zwar kein Topwert – der Comedy-Kanal Ponk hat dank einer großen Community mehr als 300.000 Abonnenten – aber im direkten Vergleich eben auch nicht schlecht.
Viele Zuschauer kommen längst nur wegen Shore, Stein, Papier. Im Schnitt um die 20.000 Abrufe zählen die Episoden. „Mittlerweile ist er fast wie’n Kumpel“, schreibt ein Kommentator unter einer aktuellen Folge. Seine kleine Fanbase hat der Namenlose inzwischen. Wie es dazu kam, kann er ja demnächst noch einmal selbst erzählen.