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xkcd: Der Meister der Strichmännchen

 

Convincing (Bild: xkcd / CC BY-NC 2.5)
Convincing (Bild: xkcd / CC BY-NC 2.5)

Geeks, diese von Mathe und Naturwissenschaften begeisterten Freaks, kennt man zuhauf. Doch sucht man nach einem Stereotyp, käme ihm Randall Munroe ziemlich nahe. Auf seine Ausbildung an einer High School für Mathematik und Wissenschaft folgten ein Physikstudium und ein Job in der Roboterforschung der Nasa. Nebenbei zeichnete er Comics mit Strichmännchen, die er im September 2005 erstmals unter dem Namen xkcd online veröffentlichte.

Seit einigen Jahren zeichnet Munroe xkcd hauptberuflich. Das meiste Geld verdient er inzwischen durch Merchandising – so erfolgreich ist sein xkcd. Laut dem Webanalysedienst Alexa gehört xkdc zu den 3.000 meistbesuchten Websites der Welt. Das angeschlossene Forum umfasst mittlerweile rund 3,3 Millionen Beiträge. Dreimal pro Woche erscheint ein neuer Comic, zudem illustriert Munroe seit vergangenem Jahr einmal die Woche unter What If? naturwissenschaftliche Fragen und Phänomene.

In der wachsenden Welt der Webcomics hat es Munroe mit seiner selbsterklärten Mischung aus „Romantik, Sarkasmus, Mathe und Sprache“ geschafft: Er wurde vom New Yorker zum Cartoon-Off eingeladen, seine Infografiken zu den US-Wahlen und Fukushima griffen renommierte Publikationen wie der Guardian auf. Auch an Preisen für xkcd mangelt es nicht.

Movie Narratives (Bild: xkcd / CC-BY-NC 2.5)
Movie Narratives (Bild: xkcd / CC-BY-NC 2.5)

Das xkcd-Paralleluniversum

Der größte Erfolg Munroes aber liegt in der Community. xkcd ist eine Fundgrube für Nerds und Rätselfreunde. Munroe verwendet häufig Sprach- und Zahlenspiele, Code-Schnipsel, physikalische oder mathematische Probleme und versteckt Anspielungen. Obwohl xkcd keine zusammenhängende Erzählung bildet und die Figuren kaum körperliche Eigenschaften haben, erkennen seine Fans wiederkehrende Charaktere an kleinen Details. Im Forum wird jeder Strip dekonstruiert und analysiert.

Dazu kommen zahlreiche externe Anwendungen. Es gibt eine deutsche Version von xkcd, ein Sub-Reddit, ein Wiki, Smartphone-Apps, Graphen im Comic-Stil, Parodien und eine Volltextsuche. Selbst das Archiv von ZEIT ONLINE lässt sich inzwischen im xkcd-Stil durchsuchen. All das ermöglicht Munroes lockerer Umgang mit dem Urheberrecht: Sämtliche xkcd-Comics stehen unter einer Creative-Commons-Lizenz.

Die aktive Community belohnt Munroe nicht nur mit Aufmerksamkeit. Sie fordert ihn auch, immer komplexere Comics zu erstellen. Im vergangenen Jahr veröffentlichte er sein Comic Nummer #1110 mit dem Titel Click and Drag. Was zunächst wie ein einfaches Panel aussah, entpuppte sich als eine riesige Welt, die sich per Maus erkunden ließ. Ausgedruckt wäre der Comic rund 14 Meter groß. Schnell haben findige Leser Anwendungen programmiert, um den Strip besser ansehen zu können.

Wikileaks (Bild: xkcd / CC BY-NC 2.5)
Wikileaks (Bild: xkcd / CC BY-NC 2.5)

Eine viermonatige Animation

Noch größer ist das jüngste Projekt. Es trägt die Nummer #1190 und den Titel Time. Am 25. März erschien das Comic online. Doch es enthielt weder Worte noch einen Witz. Erst 30 Minuten später änderte sich das Bild plötzlich um kleine Details. Die Figuren begannen, sich zu bewegen, Frame für Frame, Stunde für Stunde.

Vergangene Woche ging der Comic zu Ende. 3.099 Panels umfasst Time nun. Man könnte ihn als eine viermonatige Animation bezeichnen, als ein sehr, sehr langsam animiertes Gif. Ein Video des gesamten Comics, das ein Leser nach dem Ende erstellt hat, hat eine Laufzeit von 40 Minuten. Es ist eine surreale, eine existenzielle Geschichte. Deren Reiz nicht nur in ihrer Langsamkeit, sondern vor allem im Detail liegt.

In einem Interview mit Wired spricht Munroe erstmals über die Entstehung von Time. Das Comic spielt demnach 11.000 Jahre in der Zukunft. Unsere Gesellschaft ist längst verschwunden. Geologische Prozesse verändern die Erde, und an der Grenze des einstigen Afrikas zu Europa entsteht zu Beginn des Comics eine neue Zivilisation.

Im Sternenhimmel erkennt man Sagittarius und Skorpion (Bild: xkcd / CC BY-NC 2.5)
Im Sternenhimmel erkennt man Sagittarius und Skorpion (Bild: xkcd / CC BY-NC 2.5)

Die Leser erforschen die Comicwelt

Munroe hat über Pflanzen und Tiere recherchiert, die an dieser Stelle der Erde vorkommen. Mit einem befreundeten Astronomen hat er überlegt, wie der Sternenhimmel in 11.000 Jahren aussehen könnte. Mit einem Linguisten konstruierte er eine eigene Sprache, von den Lesern „Beanish“ getauft. Der Thread über Time im Forum ist mittlerweile über 50.000 Beiträge groß, die Erkenntnisse und Interpretationen sind in einem Wiki gesammelt. Eigens programmierte Tools erlauben, das Comic Frame für Frame anzusehen oder durchzuscrollen.

Munroe kann sich auf seine Leser verlassen. Für viele ist xkcd ein Sammelsurium cleverer Weisheiten und Gags über Wissenschaft, Internet und Geek-Kultur. Doch wer tiefer eintaucht, bekommt ein interaktives Erlebnis, in dem das gemeinsame Entschlüsseln von Bedeutungen im Mittelpunkt steht. Mit Time hat Munroe dieses Erlebnis nun perfektioniert. Jedenfalls bis zu seinem nächsten größeren Projekt. Die Fans warten schon.