„In diesem Video zeige ich Euch meinen Fuß und erkläre, wieso ich ihn mir amputieren lasse“, sagt Christina Stephens mit einem Lächeln in die Kamera. Es ist das erste Video im YouTube-Kanal von AmputeeOT, wie sich Stephens im Netz nennt, und die Bilder, die im Februar entstanden, sind nichts für schwache Nerven. Vier Monate später kann man der 31-Jährigen dabei zusehen, wie sie sich aus Lego eine Prothese baut. Eine Million Abrufe hat das Video aus dem Juni inzwischen – und Stephens ist plötzlich ein kleiner Internetstar.
Die ausgebildete Ergotherapeutin ist nicht alleine: Immer mehr Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen nutzen YouTube, um gegen Stigmatisierung vorzugehen und Vorurteile aus dem Weg zu räumen. Nicht mit medizinischen Fakten, sondern vor allem mit Humor und Persönlichkeit. „YouTube bietet eine neue Form des Austauschs“, sagt Stephens im Interview mit ZEIT ONLINE, „vor allem jüngere Menschen kommen so mit Behinderten in Kontakt, die sie sonst niemals im Leben treffen würden.“
Wie schnell das gehen kann, erfuhr Stephens Anfang des Jahres. Im Januar fiel bei einem Unfall ein Auto auf ihren Fuß. Die Frakturen waren kompliziert, die Blutgefäße verletzt. Nach einigen Wochen ohne Fortschritte beschloss sie mit ihren Ärzten, ihr linkes Bein unterhalb des Knies amputieren zu lassen. Da sie zuvor schon immer mal wieder Videos auf YouTube gestellt hatte, sei ihr ganz automatisch in den Sinn gekommen, ihre Amputation und die Folgen mit der Kamera zu begleiten, sagt Stephens.
Rund 30 Videos enthält der Kanal von AmputeeOT inzwischen. Viele davon zeigen Stephens bei der Reha, den Heilungsverlauf und den ersten Schritten mit der Prothese. Andere zeigen die junge Frau bei alltäglichen oder sportlichen Aktivitäten. Beim Gärtnern etwa und beim Bogenschießen. Oder eben beim Bauen eines „Legolegs“. Die Idee dafür hatten ihre Kollegen. In allen Videos anwesend ist die scherzende und lachende Protagonistin. „Lachen ist wichtig für mich, weil sich mein Umfeld dann wohler fühlt“, sagt Stephens, „und außerdem hilft es mir, mit der Situation umzugehen.“
Kleine Frau mit keinen Armen
Ähnlich denkt auch die als Tisha UnArmed bekannte YouTuberin. Die 26-jährige wurde ohne Arme geboren. Seit vergangenem Sommer ist sie auf der Plattform aktiv. Anders als Stephens kam sie eher zufällig zum Filmen. Aus einer Laune heraus nahm sie sich eines Tages dabei auf, wie sie mit den Füßen ein Sandwich aß. Das Video wurde mehr als 300.000 mal geklickt, inzwischen haben 20.000 Menschen ihren Kanal abonniert.
In ihren Videos zeigt Tisha, wie sie ihren Alltag ohne Arme meistert. Sie benutzt Make-up, verpackt Geschenke, kocht, mäht den Rasen und fährt mit einem speziellen Auto sogar an einem Drive-In-Schalter vor. Zu ihren ungewöhnlicheren Aktivitäten zählen der Besuch auf einem Schießstand und der Bowlingbahn. Die Leichtigkeit, mit der Tisha ihren Alltag mit Füßen und Schultern meistert, kommt bei den YouTuber-Nutzern an. Zwar bekomme auch sie unter jedem Video einige abfällige Bemerkungen, in der Summe aber seien die Reaktion sehr herzlich, sagt Tisha.
Sie möchte nicht nur zeigen, dass sie es auch ohne Arme mit den „Norms“, den nichtbehinderten Menschen, aufnehmen kann, sondern auch andere Betroffene ermutigen, ähnlich offen mit ihren Beeinträchtigungen umzugehen. Und das mit Humor: Tishas Profilbild zeigt sie mit einem T-Shirt, auf das ein Tyrannosaurus Rex und die Worte gedruckt sind: „If you’re happy and you know it clap your… oh.“
Der blinde Filmkritiker
Mit dieser Form des Selbst-auf-die-Schippe-Nehmens kennt sich Tommy Edison bestens aus. Es ist schließlich das Markenzeichen des Blinden. Seit zwei Jahren kennt man ihn als Blind Film Critic auf YouTube – und längst auch darüber hinaus. Neben seiner langjährigen Karriere als Radiomoderator hat sich Edison inzwischen mit seinen Videos ein zweites Standbein aufgebaut. Mit über 100.000 Abonnenten gehört er zu den bekanntesten blinden YouTubern.
Wenn er nicht gerade Kinofilme bespricht, beantwortet Edison in The Tommy Edison Experience Fragen der Zuschauer. Was sind die Vorteile des Blindseins? Eine kleinere Stromrechnung. Wie sucht ein Blinder seine Klamotten aus? Er trägt einfach immer Bluejeans, die funktionieren mit allem. Wie träumen Blinde? Mit miesem Bild, aber super Ton.
Eigentlich wollte Edison immer ins Fernsehen. Weil ihm dies nicht gelang, begann er mit dem Dokumentarfilmer Ben Churchill YouTube-Videos zu drehen. „Wir dachten uns, hey, wir haben hier eine Stimme, also lass sie uns nutzen“, sagt Edison. Seinen Kanal bezeichnet er als eine Anlaufstelle für alle, die sich für das Leben von Blinden interessieren – und Spaß haben möchten.
Direkter Austausch mit den Zuschauern
Das Konzept funktioniert, weil Edisons direkte und lebensfrohe Art wider die Vorurteile wirkt, die manche Menschen Blinden gegenüber haben. Außerdem steht das Format im Kontrast zu vielen, meist drögen Inklusionskampagnen, die sich für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen einsetzen, aber oft gerade an den jüngeren Generationen vorbeireden.
Nicht so Tommy Edison, Christina Stephens und Tisha UnArmed: Angetrieben von dem direkten Austausch mit den Zuschauern haben alle drei einen Weg gefunden, besser mit ihren Beeinträchtigungen leben zu können und auch anderen Menschen die Scheu und Unsicherheit im Umgang mit behinderten Menschen zu nehmen. Auch deshalb möchte Christina Stephens ihren Kanal künftig noch weiter ausbauen. Sie möchte sich als Peer-Educator für Amputationspatienten, Angehörige, Ärzte und interessierte Laien etablieren. Nicht in einer klassischen Praxis. Sondern auf YouTube und Facebook.