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Netzfilm der Woche: „Stille Nacht“

Kandahar, Afghanistan am 11. März 2012. Der 38-jährige US-Soldat Robert Bales verlässt nach einer durchzechten Nacht in den frühen Morgenstunden den Armeestützpunkt Camp Belambay. Er läuft in das nahe gelegene Dorf, betritt drei Häuser und erschießt insgesamt 16 Menschen, darunter neun Kinder. Einige seiner Opfer verbrennt er, dann kehrt er in das Lager zurück.

Ein Jahr später steht Bales vor einem amerikanischen Kriegsgericht. Die Staatsanwaltschaft fordert die Todesstrafe für den Unteroffizier, seine Verteidiger führen psychische Probleme durch frühere Kampfeinsätze an. Ein Urteil ist noch nicht in Sicht.

Die Autorin und Filmemacherin Lela Ahmadzai vom Berliner Multimedia-Studio 2470media nahm den Jahrestag des Massakers zum Anlass, um mit den Menschen zu sprechen, die in den westlichen Medien nur selten auftauchen: die Angehörigen der Opfer. Für ihre Videoreportage Stille Nacht reiste sie nach Kandahar. Ein Unterfangen, das nicht leicht war, wie sie im Interview erzählt.

ZEIT ONLINE: Sie sind in Afghanistan aufgewachsen. War das für Sie ein Grund, gerade über diesen Fall zu berichten?

Lela Ahmadzai: Nachdem das Massaker passiert war, hatte ich recht schnell die Idee, darüber etwas zu machen, und bin dazu auch verschiedene Zeitungen und Zeitschriften angegangen. Ich bin Afghanin und mit 17 nach Deutschland ausgewandert. Paschto ist meine Muttersprache, so hatte ich einen direkten Zugang zu den Angehörigen. Die Recherche hat mehr als sechs Monate gedauert, denn die Menschen, mit denen ich sprechen wollte, haben kein Telefon oder E-Mail. Dazu kommt, dass sie nicht mehr in ihren Dörfern leben, wo das Massaker passierte. Sie sind über die ganze Provinz Kandahar verteilt. Ich brauchte also jemanden vor Ort, der losging, um diese Menschen erst einmal zu finden.

ZEIT ONLINE: In den hiesigen Medien werden meist nur „16 getötete Afghanen“ erwähnt. Wollten Sie den Opfern und den Angehörigen eine Stimme geben?

Ahmadzai: Ja. Aber ich wollte der Sache auch journalistisch auf den Grund gehen. Über die von dem Massaker direkt Betroffenen gab es fast keine Berichte. Ich hätte gerne auch mit weiblichen Zeugen gesprochen. Das durfte ich leider nicht, weil es Frauen nach den regionalen Sitten kaum gestattet wird, öffentlich zu sprechen. Geschweige denn gefilmt zu werden.

ZEIT ONLINE: Wie liefen die Gespräche ab?

Ahmadzai: Mein Ziel war es, aus jeder betroffenen Familie Überlebende zu interviewen. Der Film entstand in sieben Tagen in Kabul, was den Vorteil hatte, dass die drei Interviewpartner viel Zeit für mich hatten. Die Interviews, wie sie im Film und dem ergänzenden Footage zu sehen sind, entstanden am siebten Tag. Die Gespräche an den sechs Tagen davor waren aber nicht nur notwendig, um Vertrauen zu gewinnen, sondern auch, um zu verstehen, was gemeint war. Beispiel: Für Alter oder auch Uhrzeit – etwa als Zeitangabe „ich hatte eine Schulter Schlaf gehabt“ – verwendet man dort Einheiten, die kaum oder nur durch sehr detailliertes Nachfragen und gemeinsames Durchgehen in hiesige Zeitangaben zu übersetzen sind.

ZEIT ONLINE: Weshalb haben Sie sich entschieden, den fertigen Film so minimalistisch zu halten?

Ahmadzai: Für das Schwarz-Weiß-Format haben wir uns entschieden, da das Massaker ja in der Nacht, im Dunkeln passiert ist. Die Betroffenen hatten kein elektrisches Licht und alles, was passierte, nahmen sie nur silhouettenhaft wahr. Außerdem wirkten die Aufnahmen, die direkt nach dem Massaker gemacht wurden, in Farbe extrem brutal. Das hätte in unserem Film den Fokus weg von den Interviews und subtileren Botschaften genommen.

Bei 2470media produzieren wir Filme in erster Linie für das Internet – und wir möchten, dass möglichst viele Zuschauer sie bis zum Ende sehen. Dass mit dem kompakten Format nicht gleichzeitig eine verkürzte Darstellung des Themas einhergeht, ist dabei natürlich immer wieder die Herausforderung. Bei Stille Nacht haben wir zu den Interviews eine detailgetreue Karte des Geschehens und eine Chronologie der Ereignisse mit veröffentlicht. Der Film ist so „nur“ Teil eines größeren Ganzen.

 

Netzfilm der Woche: „CatCam“

Was machen Katzen eigentlich, wenn sie draußen unterwegs ist? Wo treiben sie sich die ganze Nacht herum? Wieso rühren sie am nächsten Tag manchmal ihr Futter nicht an? Diese Fragen trieben den deutschen Ingenieur Jürgen Perthold so um, dass er dem streunenden Kater Mr. Lee, der ständiger Gast in seinem Haus in North Carolina war, mit einer Kamera am Halsband ausstattete.  Der Akku reichte für etwa 48 Stunden, jede Minute löste die CatCam automatisch ein Bild aus.

Das war 2007. Damals war Pertholds Erfindung tatsächlich so etwas wie die erste erschwingliche Katzen-Kamera. Das kleine, 70 Gramm leichte Gerät war höchst gefragt, Tausende E-Mails erreichten den Deutschen schon in den ersten Tagen.

Einige Jahre später hat Perthold seine Erfindung patentieren lassen. Inzwischen kann man auch Video- und Liveaufnahmen damit machen. Auch der Kater Mr. Lee hat es zu einem gewissen Ruhm gebracht. Als wohl erste Katze überhaupt hat er einen Fotopreis gewonnen. Und tatsächlich mag man in einigen seiner – nicht ganz freiwilligen – Aufnahmen kaum Unterschiede zur Instagram-Ästhetik erkennen.

Mehr als alles andere ist die Geschichte der CatCam aber eine Geschichte des Internets. Denn ohne die schnelle Verbreitung der Idee und der von Mr. Lee geknipsten Bilder aus dem Unterholz und von seinen Artgenossen, wäre der Erfolg des Projekts nicht möglich gewesen. Längst gibt es auf YouTube Tausende Videos unter dem Stichwort „CatCam“. Das inspirierte auch den Regisseur Seth Keal. In seiner fünfzehnminütigen Dokumentation CatCam: The Movie holte er den Erfinder und natürlich Mr. Lee vor die Kamera.

CatCam läuft nur noch bis zum 22. März exklusiv im Programm des PBS Online-Film-Festivals. Die Macher sagen, sie möchten bald auch eine internationale Version online stellen. Die wird dann selbstverständlich hier nachgetragen.

 

Netzfilm der Woche: „To This Day“

Die meisten von uns erinnern sich noch an sie, an die Mitschüler/innen, die es immer besonders häufig abbekamen, sei es durch ihr Aussehen, ihre Leistungen oder auch ihre Herkunft. Wir neigen dazu, diese Erlebnisse rückblickend als alterstypische Rangeleien abzustempeln. Doch in vielen Fällen folgen auf fiese Worte auch körperliche Übergriffe, aus scheinbar harmlosen Hänseleien wird Schikane und Mobbing, unter dem die Betroffenen oft noch viele Jahre später leiden.

Auch der kanadische Lyriker Shane Koyczan kennt dieses Gefühl. In seinem Spoken-Word-Gedicht To This Day verarbeitet er die Erfahrungen aus seiner eigenen Kindheit. Koyczan erzählt, wie er zu seinem ersten Spitznamen – Schweinekotelett – kam. Er erzählt von einer Freundin mit einem großen Muttermal auf der Wange, die sich auch heute noch immer nicht wohl in ihrem Körper fühlt. Von einem adoptierten Freund, der mit Selbstmordversuchen und Psychopharmaka aufwuchs.

Zu Beginn des Jahres rief Koyczan gemeinsam mit dem Designstudio Giant Ant dazu auf, das Gedicht zu animieren. Sie fragten Dutzende Grafikdesigner und Animationsfilmer, ob sie innerhalb von 20 Tagen je ein 20-sekündiges Segment produzieren können. Am Ende haben sich 86 Künstler an dem Projekt beteiligt, die alle ihren einzigartigen Stil und verschiedenste Animationstechniken mitbrachten, von klassisch bis experimentell. Umso überraschender ist es, wie flüssig To This Day am Ende doch ist, wie sich die Segmente trotz ihrer schnellen Abfolge ergänzen, stets zusammengehalten von der emotionalen Darbietung des Gedichts.

Letztlich ist To This Day zwei Dinge: Ein gelungenes und ambitioniertes Crowdsourcing-Projekt und ein gesellschaftlicher Aufruf. Der Film war Bestandteil des kanadischen Pink Shirt Day, einem landesweiten Anti-Mobbing-Aktionstag, der vor wenigen Tagen stattfand. Und auch darüber hinaus sollen der Film und das Gedicht auf die wichtige Thematik des Mobbings hinweisen und damit vor allem Schüler und Lehrer sensibilisieren.

Hinweis: Per Klick auf die Sprechblase im Player lassen sich Untertitel einblenden.

 

Netzfilm der Woche: „In Real Life“

Wer braucht schon Freunde, wenn man einen Spektraltiger besitzt und den Lichkönig getötet, wenn man mehr als 9.000 Achievementpunkte errungen und 50 Fraktionen angehört hat? So dachte der Brite Anthony Rosner für mehrere Jahre seines Lebens, nachdem er 2005 mit dem Online-Rollenspiel World of Warcraft begann. Er sei zu dieser Zeit depressiv gewesen, erzählt er heute, habe sich abgekapselt von seinen Freunden und sich stattdessen eine zweite Identität im Netz aufgebaut. Als Blutelf Sevrin hat Rosner in World of Warcraft in den kommenden Jahren fast alles erreicht, was es zu erreichen gilt. Er hat einen erfolgreichen Clan geführt, war unter anderen Spielern angesehen, hat zwischenzeitlich im Spiel sogar ein Mädchen aus Norwegen kennengelernt.

Nur im echten Leben, da lief es plötzlich nicht mehr so gut, und das nicht nur bei den Mädels. Bevor Rosner sein Studium begann, legte er ein freiwilliges Jahr Pause ein, um sich noch mehr dem Spiel widmen zu können. Er wurde übergewichtig, schlief schlecht, hatte kaum mehr Kontakt zu seinen Freunden. Zwischenzeitlich zahlte er mehr als 1.000 Pfund in Abogebühren und Extras. Geld, das er eigentlich nicht hatte. Bis er eines Tages merkte: Es geht nicht mehr. Rosner war videospielsüchtig.

In seinem Kurzfilm In Real Life erzählt Rosner die Geschichte von seinem Aufstieg als gefeierter Gamer bis zum Ausstieg als gebeutelter Loser. Ein Prozess, der nicht leicht war: Immer neue Erweiterungen zogen ihn ständig zurück ins Spiel. Doch Rosner schaffte es, sein Sozialleben wieder neu aufzubauen, gesünder zu leben und sich neue Ziele zu setzen. Inzwischen hat er einen Uni-Abschluss als Filmproduzent und mit In Real Life seinen ersten kleinen Erfolg in der Tasche.

Das Clevere an In Real Life ist, dass Rosner die Geschichte fast ausschließlich mit tatsächlichen Spielszenen erzählt, sein Alter Ego im Spiel damit zum Erzähler macht, der bisweilen über sich selbst lachen kann. Überhaupt ist In Real Life kein Anti-Videospiele-Pamphlet, sondern eine ehrliche, persönliche Erzählung, die andere Spieler in ähnlicher Situation nicht bloß warnen, sondern inspirieren möchte.

 

Netzfilm der Woche: „People of the Coral Triangle“

In Südostasien, im Archipel zwischen Indonesien, Malaysia und den Philippinen leben die Bajau, ein indigenes Volk von Fischern. Sie sind sogenannte Seenomaden: Einen Großteil ihres Lebens verbringen sie in ihren Booten und haben über Generationen ihren Lebensstil an den des Meeres und seine Bewohner angepasst.

Doch inzwischen schwindet ihre Zahl, und mit ihr die Tradition. Probleme mit Behörden und von den Regierungen initiierte Projekte haben viele der ehemals nur auf See heimischen Bajau in den vergangenen Jahren aufs Festland getrieben. Die verbliebenen Familien sehen sich zunehmend dem globalen wirtschaftlichen Druck ausgesetzt. Um überleben zu können, sind die Bajau auf den Fischfang angewiesen. Davon gibt es zwar reichlich im sogenannten Korallendreieck, denn im Seegebiet mit der höchsten biologischen Vielfalt der Erde sind rund zwei Drittel aller bekannten Korallenarten und zahlreiche Fischarten beheimatet. Doch die Nachfrage und Konkurrenz sind groß. So groß, dass die Bajau immer häufiger zu Methoden greifen, die gegen ihre Tradition verstoßen.

Das musste auch der britische Fotograf James Morgan feststellen, als er vor einigen Jahren die Bajau im Korallendreieck besuchte. Er sah, wie die Bajau mit selbst gebauten Sprengkörpern die Korallenriffe sprengten, um damit die Fangquote zu erhöhen. Die Dynamitfischerei ist offiziell verboten, weil sie die Riffe und damit den Fisch- und Korallennachwuchs zerstört. Andere Bajau greifen deshalb zu Natriumcyanid , einer Chemikalie, die ganze Fischschwärme bewegungsunfähig macht und dabei oft auch die Fischer selbst körperlich schädigt. Die Bajau gehen dieses Risiko ein, denn nur wer viel Fisch liefert, wird auch bezahlt.

Um diesen Teufelskreis geht es James Morgan in seinem Film People of the Coral Triangle. Was ursprünglich als Fotoreportage geplant war, hat Morgan anschließend noch einmal mit Bewegtbildern und Animationen zu einem Film erweitert, der nicht bloß das Dilemma der Bajau offenbart, sondern auch die Frage stellt, wie nachhaltige Fischerei aussehen kann. Die eindrucksvollen Aufnahmen aus dem Leben der Bajau schneidet Morgan in der zweiten Hälfte zusammen mit Aufnahmen aus der weiten Reise, die ein Fisch aus dem Korallendreieck bis zum Markt in den USA nehmen muss. Die Botschaft ist deshalb ähnlich stark wie die Bilder: Ein Umdenken ist erforderlich, sowohl bei den Bajou, die mit den umstrittenen Fangmethoden ihre eigene Existenz zerstören, als auch bei den Industrienationen, die mit ihrer unersättlichen Nachfrage an Fisch das Problem noch verstärken.

 

Netzfilm der Woche: „The Centrifuge Brain Project“

Was geschieht mit unserem Gehirn, wenn man es extremer Fliehkraft aussetzt? Dieser Frage geht das Centrifuge Brain Project aus Florida unter der Leitung von Dr. Nick Laslowicz nach. Waren die ersten Experimente noch ein Desaster, weil die Bauten ständig auseinanderflogen, hat das Projekt dank der Unterstützung einer Vergnügungsparkgesellschaft inzwischen mehrere Achterbahnen entworfen, eine tollkühner als die andere.

Man merkt es schon, die ganze Sache ist nicht ganz erst gemeint. The Centrifuge Brain Project ist nämlich eine Mockumentary, also eine rein erfundene Doku. Hinter dem scheinbar so seriösen Wissenschaftler Doktor Laslowicz versteckt sich der New Yorker Kunstagent Leslie Barany.

Der schlaue Kopf hinter dieser Satire ist der Hamburger Künstler und Animationsfilmer Till Nowak. Nowak hatte ursprünglich Baupläne für fiktive Karusells im Rahmen eines Kunstprojekts entworfen, das unter anderem auf der Biennale in Seoul und der Ars Electronica ausgestellt wurde. Für The Centrifuge Brain Project hat Nowak Archivbilder, Animationen und wacklige Aufnahmen im Heimvideostil zusammengeführt, um daraus eine augenzwinkernden Kurzfilm zu machen, der in Form des leicht durchgeknallten Dr. Laslowicz die Wissenschaft als solche auf die Schippe nimmt.

Im vergangenen Jahr gewann Till Nowak mit seinem Kurzfilm ein paar Dutzend Preise auf diversen Filmfestivals. Wir sprachen mit dem Künstler über die Entstehung und Idee hinter The Centrifuge Brain Project.

(Hier geht es zu einer deutschen Version)

ZEIT ONLINE: Herr Nowak, sind Sie ein Fan von Vergnügungsparks?

Nowak: Mich haben diese riesigen Karussells schon immer fasziniert. Diese Kombination aus den verspielten Fassaden und den unglaublichen Maschinen dahinter – für mich sind Achterbahnen mechanische Kunstwerke. Sie lösen bei mir eine Mischung aus Ehrfurcht und Faszination aus, weil man sich als Mensch so klein vorkommt, wenn man davorsteht.

ZEIT ONLINE: Wie kommt man denn auf die Idee, eine Mockumentary mit fiktiven Karussells zu produzieren?

Nowak: Begonnen hat es als Kunstprojekt ohne konkrete Erzählung. Ich hatte über Jahre hinweg Material von Vergnügungsparks gesammelt und digital manipuliert. Stilistisch erinnern die Sequenzen an Archiv-Aufnahmen, was mich auf die Idee brachte, sie in einer fiktiven Dokumentation zusammenzufassen. Mockumentaries wie Orson Welles Hörspiel Krieg der Welten von 1938 haben mich immer fasziniert. Ich versuche allerdings niemanden ernsthaft glauben zu lassen, dass die Geschichte meines Films wahr wäre. Der Film enthält einige absichtliche Widersprüche und auch der Abspann macht das deutlich.

ZEIT ONLINE: Was gehört noch zu dem Kunstprojekt?

Ein Plan des Kunstprojekts (© Till Nowak/Courtesy: Claus Friede*Contemporary Art)
© Till Nowak/Courtesy: Claus Friede*Contemporary Art

Nowak: Parallel zum Kurzfilm gibt es noch The Experience of Fliehkraft. Dieses Projekt besteht aus den fiktiven Bauplänen der Karussells als Ausstellungsinstallation in Kombination mit den kurzen Videoclips der einzelnen Karussells. Die limitierten Drucke der Konstruktionspläne erscheinen auf den ersten Blick real, sind aber inhaltlich völlig absurd.

ZEIT ONLINE: Der Film besteht aus 3D-Animationen, Archivaufnahmen und Found Footage. Was macht den Reiz dieser Mischung aus?

Nowak: Der Reiz der wackeligen Handkamera liegt in der Illusion von Realität und dem Gefühl des Betrachters, selbst Augenzeuge des Geschehens zu sein. Wir sind durch Handyvideos im Internet und in den Nachrichten an diesen „Augenzeugen“-Look gewöhnt und wollen ihm Glauben schenken. Das Projekt ist daher auch eine Metapher für unseren Glauben an den ewigen Fortschritt und die Medienwirklichkeit. Als Künstler finde ich diesen Stil auch deshalb sehr interessant, weil er der Sterilität von Computeranimationen entgegenwirkt. Die technisch aufwändigen und präzisen Arbeitsvorgänge, bei denen für 10 Sekunden häufig ein bis zwei Wochen Arbeit notwendig sind, sehen nun aus, als wären sie im Vorbeigehen aufgenommen.

ZEIT ONLINE: Auch Ihre anderen Projekte scheinen stets die Wirklichkeit zu verfremden. Ist das Ihr Markenzeichen?

Nowak: Ich würde meine Technik als eine Art „Sampling“ bezeichnen, also das Extrahieren und Verfremden von Teilen der Realität. Darin liegt für mich ein größerer Reiz als im Erstellen vollständig virtueller Welten. Für mich ist das wie Träumen – im Traum verarbeitet man ja auch seine realen Erfahrungen und Erinnerungen auf teilweise abstruse Art und Weise. Wir sind direkt tiefer drin und näher dran, wenn der Anknüpfungspunkt zu einer surrealen Idee unsere ganz unmittelbare Realität ist.

ZEIT ONLINE: Sie haben in der Vergangenheit schon andere erfolgreiche Filme gedreht. Was war das Besondere an diesem Projekt?

Nowak: Es ist ein sehr persönlicher Film. Die Kirmes steht für meine Kindheit in den Achtzigern. Außerdem träumte ich früher immer davon, einmal „verrückter Wissenschaftler“ zu werden. Dass ich den Inhalt des Films irgendwie schon immer mit mir herumgetragen habe, merkte ich auch daran, dass ich den Monolog des Professors in wenigen Stunden heruntergeschrieben habe. Und zwar nicht nur die kurzen Teile aus dem Film, sondern über eine Stunde Text, aus dem es aber nur ausgewählte Teile in den Film geschafft haben. Ein Highlight der Produktion waren die Aufnahmen mit Leslie Barany, der eigentlich der Kunstagent von HR Giger ist.

ZEIT ONLINE: Was erhoffen Sie sich nun noch von der Online-Veröffentlichung? Ist das nur noch die Kür?

Nowak: Als Kurzfilmmacher ist das Veröffentlichen des Films im Internet ein ganz besonderer Moment, denn nach einem Jahr voller Filmfestivals beginnt das Leben des Filmes jetzt praktisch nochmal von vorne, nämlich für das Online-Publikum. Wenn ein Kurzfilm im Internet hohe Klickzahlen erreicht, ist außerdem die Aufmerksamkeit der großen Filmstudios gewiss. Bei mir trudeln nach jeder solchen Veröffentlichung eine Menge Anfragen ein. Beides, die Filmfestivals und die Onlinepräsenz, sind eine tolle Belohnung, wenn man so lange an einem Film gearbeitet hat.

 

Netzfilm der Woche: „In the Pines“

Eine Stimme auf dem Anrufbeantworter. Eine junge Frau, die alleine durch die Wälder stapft. Eine besorgte Mutter am Telefon. Mehr als diese wenigen Einstellungen brauchen Zeek Earl und Chris Caldwell von Shep Films nicht, um mit ihrem Kickstarter-finanzierten Kurzfilm In the Pines die Assoziationen der Zuschauer zu wecken. In den weiteren acht Minuten spielen sie geschickt mit deren Erwartungen.

Schnell klärt sich, dass es sich bei der Stimme auf dem Band und der Frau in den Wäldern um die gleiche Person handelt. Sie erzählt, dass sie auf dem Weg zu einem Treffen sei. Doch zu welchem? Dass sie nicht böse sei, dass ihre Mutter es nicht verstehe. Was nicht versteht? Erst nach wenigen Minuten kommt die Auflösung, mit der wohl kaum jemand gerechnet hat: Es geht um ein Treffen mit Außerirdischen, die die junge Frau bereits einmal entführt haben sollen und zu denen sie nun wieder Kontakt sucht.

An dieser Stelle könnte der Film Gefahr laufen, in Unglaubwürdigkeit abzudriften. Doch In the Pines spielt geschickt mit den übernatürlichen und den psychologischen Aspekten, ohne sich auf eine definitive Antwort einzulassen. Erzählt die Frau die Wahrheit oder ist sie schlicht verrückt? Hinweise gibt es für alle Zuschauer, die genau aufpassen. Dazu die Bilder: In immer schnelleren Schnitten, gepaart mit Makros und Aufnahmen aus den Olympic Mountains nahe Seattle, entwickelt In the Pines eine packende Intensität, die durch Soundtrack von Daniel K. Caldwell und seinem post-rockigen Crescendo noch verstärkt wird.

 

Netzfilm der Woche: „R’ha“

Es ist der Traum  jedes Regisseurs. Einen  Film drehen, ihn online veröffentlichen und wenig später klopfen die großen Filmstudios an die Tür. Für den Berliner Studenten Kaleb Lechowski ist dieser Traum in Erfüllung gegangen. Sein 3D-animierter Science-Fiction-Kurzfilm R’ha wurde in einer Woche nicht nur über eine Million Mal abgerufen, sondern weckte auch das Interesse Hollywoods. Schon bald wird Lechowski für Gespräche nach Los Angeles fliegen.

Die Geschichte an sich wäre schon erstaunlich genug. Sie wird noch besser, wenn man sich die Umstände genauer ansieht. Denn Lechowski ist kein etablierter Filmemacher, sondern Student an der Mediadesign Hochschule in Berlin. R’ha ist erst der zweite Kurzfilm des 22-Jährigen. Abgesehen von einigen kleinen Experimenten mit der kostenlosen Software Blender hatte Lechowski kaum Erfahrung mit der Produktion eines computeranimierten Films. Sieben Monate arbeitete er weitestgehend alleine an dem Projekt, lediglich die Soundeffekte und Stimmen kamen  von Profis.

R’ha zeigt in seinen sechs Minuten nur ein Fragment eines größeren Universums. Lechowski selbst nennt The Matrix und Terminator als Einflüsse, aber auch andere klassische Science-Fiction-Zutaten haben offenbar ihren Weg in den Film gefunden: Es geht um einen Kampf zwischen Aliens und Maschinen, um ferne Planeten und eine Zerstörung galaktischen Ausmaßes. R’ha sieht dabei nicht nur gut aus, sondern funktioniert gerade deshalb, weil er nicht zuviel erzählt: Zwischen der kurzen Rückblende und dem geschickt offen gehaltenem Ende fällt es nicht schwer, sich eine komplexe Geschichte vorstellen zu können.

Und vielleicht erfährt Lechowski ja ein ähnliches Schicksal wie Neill Blomkamp: Der Südafrikaner drehte 2005 einen Kurzfilm, auf den Hollywood ebenfalls aufmerksam wurde. Einige Jahre später entstand daraus ein erfolgreicher Spielfilm. Der Titel? District 9.

ZEIT ONLINE: Sie stehen inzwischen mit Vertretern aus Hollywood in Kontakt?

Kaleb Lechowski: Ja, den ersten Kontakt hatte ich mit [dem Filmmanager, Anm.] Scott Glassgold, einen Tag vor der Online-Veröffentlichung. Ich war mehr als überrascht! Ich hätte nicht damit gerechnet, dass der Film derart erfolgreich sein würde. Inzwischen haben viele ihr Interesse bekundet. Ich bin gespannt, was sich in den kommenden Gesprächen in Los Angeles ergeben wird.

ZEIT ONLINE: Haben Sie denn bereits Ideen für einen möglichen Feature-Film auf Basis von R’ha entworfen?

Lechowski: Definitiv. Ich arbeite schon seit längerem am Konzept dieser Alienrasse, und mit dem Film ergab sich der Startschuss für ein ganz neues Universum.

ZEIT ONLINE: Welche Rolle messen Sie der Veröffentlichung von Filmen auf Vimeo und YouTube zu?

Lechowski: Vimeo ist bloß eine Plattform. Ich verdanke meinen schnellen Erfolg sicherlich vor allem dem Engagement von Scott Glassgold, der für eine breit gefächerte Veröffentlichung gesorgt hat. Festivals sind auch eine gute Methode, um Aufmerksamkeit zu gewinnen. Doch ich denke nicht, dass der Film so rasch verbreitet worden wäre, wie es jetzt der Fall war.

ZEIT ONLINE: Gehen Sie jetzt als gefeierter Filmemacher überhaupt noch an die Uni zurück?

Lechowski: (lacht) Noch hat sich nichts verändert. Ich denke, ich muss diese Phase einfach genießen.