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Wie groß war das Terrornetzwerk wirklich? – Das Medienlog vom Montag, 19. Mai 2014

 

Mehrere Tage musste der Prozess wegen einer Erkrankung der Hauptangeklagten Beate Zschäpe pausieren. Nun wird er mit der Vernehmung von Jürgen H. wieder aufgenommen, der nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes als Kurier für den NSU tätig war. Doch während sich das Gericht mit der Frage befasst, wie das 1998 untergetauchte NSU-Trio seine Kontakte zur Außenwelt organisierte, wachsen die Zweifel daran, ob der NSU tatsächlich nur aus drei Mitgliedern bestand.


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Die Liste der offenen Fragen im NSU-Komplex sei noch immer so lang, dass beim Verfahren gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben und drei weitere Angeklagte viele Aspekte ausgeklammert würden, um überhaupt deren strafrechtliche Schuld verhandeln zu können, analysiert Patrick Gensing auf tagesschau.de. Nun bestätige sich jedoch, dass das Drängen einiger Nebenkläger berechtigt sei, das mutmaßliche Netzwerk hinter dem NSU auszuleuchten. Selbst die Obleute des ehemaligen U-Ausschusses des Bundestages zum NSU würden mittlerweile an ein größeres Netzwerk glauben – und damit ihren eigenen Abschlussbericht infrage stellen.

Die Obfrau der SPD im ehemaligen NSU-Untersuchungsausschuss, Eva Högl, hatte tagesschau.de gesagt, sie und ihre Kollegen Petra Pau (Obfrau der Linkspartei im Ausschuss) sowie Clemens Binninger (CDU-Obmann) hielten mittlerweile die These eines isolierten Terrortrios für zweifelhaft. Aufgrund neuer Erkenntnisse vermute sie zudem, dass die bei einem brutalen Überfall in Heilbronn getötete Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter gezielt ermordet worden sei. Sie hege Zweifel, dass Kiesewetter zufällig Opfer der Terroristen geworden sei. Die SPD-Politikerin erwartet neue Erkenntnisse dadurch, dass die Bundesanwaltschaft in dem Fall auch noch gegen Unbekannt ermittelt. Kiesewetter gilt als das letzte Opfer des NSU. Das Motiv für diese Tat ist bis heute unklar.

Die Süddeutsche Zeitung fragt unterdessen nach der Rolle eines früheren V-Mannes im Fall NSU. Der umtriebige rechtsextreme Skinhead, der unter dem Namen Primus bis mindestens 2002 für den Verfassungsschutz arbeitete, habe in Zwickau gelebt – der Stadt, in der sich der NSU versteckte. „Er kannte viele Leute aus dem Umfeld des NSU“, berichten die Autoren Hans Leyendecker und Tanjev Schultz und nennen etliche Hinweise auf den Kontakt zwischen dem V-Mann und dem NSU-Trio. Dazu zählten zahlreiche gemeinsame Bekannte ebenso wie unbestätigte Zeugenaussagen.

Er habe das Trio nicht gekannt, habe Primus zwar der Polizei gesagt. Aber sei es wirklich vorstellbar, dass er die Terroristen nicht kannte, fragen Leyendecker und Schultz. „Ging die Übersiedlung des Trios von Jena nach Chemnitz und dann nach Zwickau ausgerechnet an dem Mann vorbei, der wie eine Spinne im rechten Netz hing?“ Schließlich sei die 90.000-Einwohner-Stadt Zwickau nicht die Welt. Im Oktober 2010 sei die Akte von Primus beim BfV geschreddert worden. „Die Feststellung, dass Primus, der bislang nicht mal als Zeuge für die Hauptverhandlung im Gericht vorgesehen ist, so nah dran war und angeblich doch so fern, ist nicht sehr beruhigend“, kritisieren die Autoren. „Wusste eine Behörde oder einer ihrer geheimen Informanten mehr über die Terroristen, als sie heute zugeben?“

Wegen dubioser V-Leute wie Primus würden Abgeordnete der Grünen, der Linken und sogar der CDU mittlerweile darüber nachdenken, ob es im Bundestag einen zweiten Untersuchungsausschuss geben sollte, merkt die Süddeutsche Zeitung an. Er könnte sich mit den offengebliebenen Fragen zur Rolle der Geheimdienste im NSU-Komplex befassen. „Im Mittelpunkt“, fordern Leyendecker und Schultz, „müsste das BfV stehen, das durch seine Schredderaktionen und durch erstaunliches Nichtwissen aufgefallen ist“.

Das nächste Medienlog erscheint am Dienstag, 20. Mai 2014.