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Wer brachte die Bombe in den Lebensmittelladen?

 

Die Schmerzen, die die junge Deutsch-Iranerin Mashia M. nach einem Bombenangriff von rechtsextremen Terroristen durchlitt, kann niemand nachfühlen. Im Saal A101 des Münchner Oberlandesgerichts lassen sie sich zumindest erahnen. Auf den Leinwänden erscheinen Fotos der damals 19-Jährigen, die im Januar 2001 eine Stollendose im Geschäft ihres Vaters geöffnet hatte – darin befand sich eine Kartusche mit Schwarzpulver, die explodierte. Das Opfer wurde in eine Klinik für Schwerstverbrannte gebracht.

Die Bilder, die der Gutachter Oliver Peschel zeigt, sind ein Zeugnis des Hasses. Das Gesicht der Verletzten ist kaum zu erkennen – die Augen sind zugeschwollen, die Haut mit Blut verschmiert und von Rußpartikeln bedeckt. Im Mund steckt ein Schlauch, durch den sie künstlich beatmet wird. Hätte sich M. nicht kurz vor der Explosion zufällig unter einen Tisch gebückt, hätte sie „nicht mit dem Leben vereinbare“ Verletzungen erlitten, sagt Peschel. Beinahe hätte M. zu den Mordopfern des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) gehört.

Keine Ähnlichkeit mit Mundlos oder Böhnhardt

Der Anschlag ereignete sich in einem Lebensmittelladen in der Kölner Probsteigasse, den die Familie betrieb. Gut einen Monat zuvor hatte dort ein Mann einen Weidenkorb mit der Dose hinterlassen und nie wieder abgeholt. Irgendwann siegte die Neugier über den Inhalt bei Mashia M. Sie selbst hatte bereits Anfang Juni ausgesagt, zudem ihre Eltern und ihre Schwester.

Wie bei jenen Sitzungsterminen lautet auch am 120. Verhandlungstag die Frage: Wer war der Mann mit dem Korb? Für die Bundesanwaltschaft steht die Antwort fest: Uwe Mundlos oder Uwe Böhnhardt, die auch einen weiteren Anschlag in Köln begangen und zehn Menschen erschossen haben sollen. Schließlich übernahm der NSU in seinem Bekennervideo die Verantwortung für die Tat.

Viele Prozessbeteiligte haben an dieser Theorie aber mindestens Zweifel. Der Täter hatte damals das Geschäft betreten und mit dem Ladenbesitzer Djavad M. gesprochen, auch Mashias Schwester Mashid sah den Mann kurz. Später fertigten die Ermittler auf Grundlage der Angaben Phantombilder, die in weiten Teilen übereinstimmten: ein junger Mann mit ausgeprägten Wangenknochen und schulterlangen, blonden Haaren. Mundlos und Böhnhardt sah der Mensch auf dem Bild nicht einmal ansatzweise ähnlich.

Verdachtsmoment im Keim erstickt

Die These um einen Unterstützer vor Ort ließ die Bundesanwaltschaft in ihrer Anklage außen vor. Dabei gab es offenbar eine Spur, der die Ermittler nicht ernsthaft nachgingen – warum, wollen die Nebenklageanwältinnen Edith Lunnebach und Christina Clemm erfahren. Sie beantragen, die frühere Leiterin des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, Mathilde Koller, als Zeugin zu laden. Denn die Mitarbeiter des Geheimdienstes konnten sich auf die Phantombilder durchaus einen Reim machen: Sie erkannten eine Ähnlichkeit mit dem Neonazi Johann H. aus Köln.

Der heute 47-Jährige war 2012 Mitglied der rechtsextremen Kameradschaft Walter Spangenberg, die im Mai desselben Jahres verboten wurde. Die Verfassungsschützer hatten für diese Erkenntnis ihre Fotokartei durchgesehen und eine „Überprüfung relevanter Personen der örtlichen neonazistischen Szene“ vorgenommen, wie es in einem Schreiben des Innenministeriums an den Generalbundesanwalt vom Februar 2012 heißt. Das unweigerliche Verdachtsmoment erstickte die Behörde jedoch im Keim: „Anhaltspunkte für eine Tatbeteiligung bestehen nicht“, schließt die Mitteilung.

Zu demselben Schluss kam kurz darauf dann auch eine Ermittlerin des Bundeskriminalamts, die nach dem Willen der Anwältinnen ebenfalls in München aussagen soll. Die Einschätzung überrascht, lieferten doch die Akten interessante Anhaltspunkte: H. war 1985 wegen eines Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz verurteilt worden. Zudem besaß er Waffen und war Mitglied einer Reservistengemeinschaft für Scharfschützen bei der Bundeswehr.

Bis heute vom Verfassungsschutz beobachtet

Das wäre ein Grund gewesen, dem Neonazi zumindest einen Besuch abzustatten. Doch dazu kam es nicht. Die Kölner Polizisten legten Djavad und Mashid M. ein Passfoto von H. vor, mit dem dieser einen Personalausweis beantragt hatte. Zuvor veränderten sie die Frisur auf dem Bild so, dass sie mit den Phantombildern übereinstimmte. Beide erkannten jedoch keine Ähnlichkeit mit dem Täter. Auch eine Ganzkörperaufnahme von H., betitelt mit der Aufschrift „Frühjahr 2002“, konnten sie nicht zuordnen. Damit war die Spur für die Ermittler erledigt.

Lunnebach und Clemm werfen den Kölnern nun unsaubere Arbeit vor: Das Passbild sei unscharf gewesen, dadurch ließen sich keinerlei Ähnlichkeiten mit „irgendeiner anderen Person“ feststellen. Tatsächlich räumt die BKA-Beamtin in einem weiteren Vermerk ein, Mashid M. hätte wegen der schlechten Bildqualität Johann H. nicht wiedererkennen können. Insbesondere aber machten die Polizisten Ermittlungen gegen H. einzig von der Einschätzung der Zeugen abhängig – deren Erinnerungen durch den Schock der Tat getrübt oder beeinflusst sein konnten.

Der Verdacht gegen H. gibt Anlass zu einem schaurigen Szenario: dass ein NSU-Mittäter unbehelligt von Ermittlern seiner Wege gehen kann. Bis heute beobachtet der Verfassungsschutz Johann H., weil er sich in der rechten Szene der Kölner Umgebung bewegt.