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Aufklärung in letzter Minute?

 

Noch ein Tag, dann ist ein großer deutscher Geheimdienstskandal verjährt: Die Vernichtung von NSU-Akten beim Verfassungsschutz. Anwälte versuchen, die Frist zu stoppen.

Das Timing war höchst auffällig: Am 11. November 2011 befahl ein Abteilungsleiter des Bundesamts für Verfassungsschutz in Köln einer Mitarbeiterin, die Akten mehrerer Informanten aus der rechten Szene durch den Schredder zu jagen. Eine Woche zuvor, am 4. November, war die Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) aufgeflogen. Und unter den vernichteten Dokumenten war die Akte eines V-Mannes, in der es auch um das NSU-Trio aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ging.

Wie heute bekannt ist, hätte der NSU mit Hilfe dieser Informationen womöglich aufgehalten werden können. So behauptet es jedenfalls jener frühere Spitzel, der den Decknamen „Tarif“ trug. Demnach wäre die später „Aktion Konfetti“ getaufte Aktenvernichtung der Versuch des Verfassungsschutzes gewesen, sein eigenes Versagen zu kaschieren.

Fünf Jahre später überrascht eine andere Behörde mit gleichsam auffälligem Timing: Am Dienstag entschied die Kölner Staatsanwaltschaft, wegen des Schredderns nicht gegen den Abteilungsleiter im Verfassungsschutz zu ermitteln. Nur zwei Tage nach der Entscheidung, mit Ablauf des 10. Novembers, tritt die sogenannte Verfolgungsverjährung ein – damit wäre der Fall juristisch endgültig erledigt. Um die Verjährung aufzuhalten, müsste die Staatsanwaltschaft Ermittlungen führen – etwa, den Abteilungsleiter vernehmen. Doch dafür sieht sie keinen Anlass.

Der in der Öffentlichkeit nur unter dem Tarnnamen Lothar Lingen bekannte Beamte muss also voraussichtlich nicht einmal mit einer juristischen Untersuchung rechnen, mit strafrechtlichen Konsequenzen schon gar nicht. Dabei standen erhebliche Vorwürfe im Raum: Strafvereitelung, Urkundenunterdrückung und Verwahrungsbruch. Wegen dieser Straftatbestände hatten die Angehörigen des 2005 in Dortmund ermordeten NSU-Opfers Mehmet Kubasik und ihre Anwälte Anfang Oktober in Köln Strafanzeige erstattet.

Zu viele Zeugen – keine Ermittlungen?

Nun kam – praktisch in letzter Minute – die Antwort des zuständigen Staatsanwalts, die ZEIT ONLINE vorliegt. Ein Verdacht gegen Lingen sei demnach „nach wie vor nicht gegeben“, heißt es.

Interessant ist die Begründung, mit der die Behörde eine Einmischung ablehnt: Gegen die Annahme eines „Vertuschungsszenarios“ bei der Vernichtung sprächen „deren Offenheit unter Einbindung unzähliger Personen“. Im Klartext: In den Büros des Verfassungsschutzes bekamen mehrere Mitarbeiter die Schredder-Aktion mit, einschließlich der Angestellten, die die Vernichtung ausführen musste. Ermittlungen gibt es nun nicht aus Mangel an Zeugen, sondern weil davon reichlich vorhanden sind.

Stattdessen wertet der Staatsanwalt das Vorgehen als „Bereinigung der Aktenbestände“ im Sinne des Datenschutzes. Tatsächlich hatte Lingen selbst angedeutet, dass es so wohl nicht war.

2014 wurde er von der Bundesanwaltschaft vernommen, die auch im NSU-Verfahren die Anklage führt. Dabei sagte er: „Vernichtete Akten können aber nicht mehr geprüft werden.“ Er befürchtete offenbar Druck von außen, wenn die hohe Zahl der Thüringer V-Männer – mindestens sieben – bekannt würde. Denn dann hätte sich der Verfassungsschutz fragen lassen müssen, wie ein rechtsextremes Trio jahrelang aus dem Untergrund heraus Anschläge begehen kann, ohne behelligt zu werden. Dazu ist es nun ohnehin gekommen.

Der Kölner Staatsanwalt beruft sich außerdem darauf, dass die Bundesanwaltschaft ihm die Vernehmung Lingens nicht zugestellt hat. Dabei handelt es sich offenbar um eine weitere Panne: Vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags hatte eine Bundesanwältin angegeben, sie gehe davon aus, dass das Vernehmungsprotokoll nach Köln geschickt worden sei.

Durch das Treiben der Ermittler hat ein möglicherweise straffälliger Beamter sehr wahrscheinlich nichts zu befürchten. Noch am Dienstag wandten sich darum die Opferanwälte Antonia von der Behrens und Sebastian Scharmer mit einer Beschwerde an den Leitenden Oberstaatsanwalt und beantragten, Lingen zur Vernehmung zu laden, um die Verjährungsfrist aufzuhalten.

Nun hängt die Aufklärung des Falls von der neuen Entscheidung ab. Der Verfassungsschützer hat die knapper werdende Zeit auf seiner Seite.