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Fünf Fragen, die nach dem NSU-Prozess bleiben

 

Große Teile des NSU-Komplexes sind nicht aufgeklärt. Auch nach dem Urteil werden viele Fragen bleiben. Und neue sind hinzugekommen – zur Qual der Opferangehörigen.

Juristisch ist der Fall NSU nach dem Urteil am Mittwoch vorerst beendet. Auch viele der Untersuchungsausschüsse haben ihre Arbeit abgeschlossen. Die ernüchternde Bilanz: Wenn all die Recherchen über die rechtsextreme Terrorgruppe zu etwas geführt haben, dann zu noch mehr Fragen. Vom Status „aufgeklärt“ ist der Fall noch weit entfernt. So wird es vermutlich auch noch lange bleiben.

Nicht alles, was zu Beginn Rätsel aufgegeben hat, ist in mehr als fünf Jahren NSU-Prozess erhellt worden. Diese fünf Fragen sind nach wie vor ungeklärt:

Wie wurden die Opfer ausgewählt?

Schon vor Prozessbeginn hatten die Angehörigen der Opfer deutlich gemacht, dass ihnen eine Antwort auf diese Frage wichtiger sei als eine harte Strafe. Die Antwort aber kam nicht, auch nicht von Beate Zschäpe.

So müssen sich die Hinterbliebenen weiterhin fragen: Warum wurde unser Mann, Vater oder Bruder Opfer des NSU? Dringlich ist die Frage auch, weil der NSU Datensammlungen mit rund 10.000 Adressen in ganz Deutschland angelegt hatte, dazu kamen sorgfältig präparierte Stadtpläne mit Markierungen. Für die späteren Tatorte existierten sogar detaillierte Notizen, wie: „Sehr gutes Objekt. Guter Sichtschutz. Person gut, aber alt.“

Die Vermutung, dass es vor Ort Helfer gab, die bei der Auswahl geeigneter Opfer halfen, gilt fort. Über das engmaschige rechte Netzwerk Deutschlands wäre das zu bewerkstelligen gewesen. Doch diese These ist bis heute weder widerlegt noch ausgeräumt.

Woher kamen die Waffen?

Insgesamt 20 Pistolen, Gewehre und Schreckschusswaffen fanden Polizisten im ausgebrannten Haus der Gruppe in Zwickau und in dem Wohnmobil, mit dem Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zu ihrem letzten Banküberfall gefahren waren. Hinter der bürgerlichen Fassade in der Zwickauer Frühlingsstraße lagerte ein paramilitärisches Arsenal inklusive 1.600 Schuss Munition. Für weitere Morde waren die Extremisten also bestens gerüstet.

Für den größten Teil der Waffen und der Munition ist ungeklärt, wie der NSU ihn sich beschaffen konnte. Gesichert ist durch die Beweisaufnahme, dass der Mitangeklagte Carsten S. die Pistole Česká 83 beschaffte, mit der neun Migranten erschossen wurden. Unklar ist aber beispielsweise die Herkunft der Pistolen Radom und TOZ, die beim Polizistenmord von Heilbronn zum Einsatz kamen.

Wer besorgte das Material? Gab es Helfershelfer, die sich dafür in der Szene umhörten? Sicherte ein rechtsextremes Netzwerk die Versorgung? Gegen mindestens zwei Verdächtige laufen dazu noch Ermittlungsverfahren – geklärt sind die Transportwege noch nicht.

Wie viel wusste Beate Zschäpe wirklich von den Taten?

Zschäpe selbst ist die Antwort nicht schuldig geblieben: In ihrer Aussage vom Dezember 2015 teilte sie mit, Mundlos und Böhnhardt hätten ihr immer erst im Nachhinein von den Morden und Anschlägen erzählt. So versuchte sie, sich als unbeteiligtes Anhängsel der beiden darzustellen.

Schon während der Beweisaufnahme erschien ihre Darstellung nicht schlüssig. So teilte sie mit, Mundlos und Böhnhardt seien am 4. November 2011 nach ihrem Banküberfall in Eisenach „überfällig“ gewesen – obwohl das Wohnmobil, mit dem sie unterwegs waren, noch für drei weitere Tage gemietet war. Die Frage, was sie mit dieser Formulierung meinte, beantwortete sie nicht.

Ob die Zschäpe also von Anfang an in jedes Detail der Mordpläne eingeweiht war oder ob sie die Bluttaten billigend in Kauf nahm, bleibt im Dunkeln.

Wer hat den NSU unterstützt?

Dass der NSU keine allein handelnde Zelle aus drei Personen war, ist klar – schließlich wurden neben Zschäpe auch vier andere Verdächtige angeklagt. Die mutmaßlichen Unterstützer sollen Waffen beschafft oder ihre Ausweise für das klandestine Leben von Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos zur Verfügung gestellt haben. Zudem führt die Bundesanwaltschaft neun weitere Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Unterstützer. Trotzdem ist nach intensiver Ausleuchtung weiter Teile der rechten Szene bis heute nicht klar, wer dem NSU wann und wie geholfen hat.

Zschäpe selbst hat sich über Unterstützer konsequent ausgeschwiegen – einzig den als V-Mann enttarnten Neonazi Tino Brandt belastete sie in ihrer Aussage. Bis heute linientreue Kameraden beriefen sich in ihren Zeugenaussagen konsequent auf Erinnerungslücken oder verweigerten störrisch die Auskunft – ohne dass Richter Manfred Götzl dafür Strafen verhängte. Der ebenfalls als V-Mann aufgeflogene Ralf Marschner lebt unbehelligt in der Schweiz und lässt sich nicht befragen. Das Netzwerk um den NSU hält konsequent dicht – seine Ausmaße lassen sich nur erahnen.

Wie viel hat Verfassungsschützer Temme gesehen?

Siebenmal musste der frühere Verfassungsschützer Andreas Temme als Zeuge aussagen – so oft wie kein anderer. Der Grund: Er war am Tatort, als am 6. April 2006 der Betreiber Halit Yozgat in seinem Kasseler Internetcafé von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt erschossen wurde. Temme, der am Computer mit einer Affäre chattete, will aber weder die Schüsse gehört noch den Sterbenden am Boden liegen gesehen haben.

An seiner hartnäckig beibehaltenen Aussage hegen vor allem die Vertreter der Opfer bis heute größte Zweifel. Eine Londoner Forschergruppe baute für Nachforschungen sogar das Café nach und erstellte eine Computeranimation, basierend auf einem Video, in dem Temme seine Bewegungen für die Polizei nachstellte. Sie kam zu dem Ergebnis: Der Verfassungsschützer muss den Mord bemerkt haben.

Für das tatsächliche Geschehen am Tattag gilt das jedoch keineswegs als so sicher. Für die Angehörigen bleibt damit auch nach dem Prozess nur das unbefriedigende Gefühl, dass der Mord an Halit Yozgat nicht restlos geklärt ist — so wie andere Taten des NSU.