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Wo sind die ostdeutschen Eliten?

 

Deutschlands Eliten sind westdeutsch. Nur fünf bis neun Prozent der Führungsposten in Politik, Wirtschaft, Militär, Justiz etc. sind derzeit von Menschen besetzt, die in Ostdeutschland geboren worden sind. Gemessen am Anteil der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung in Deutschland müssten es 17 Prozent sein – wenn man den Anspruch erhebt, dass jede Region, jedes Bundesland, jede Bevölkerungsgruppe entsprechend ihrem prozentualen Anteil in den Führungszirkeln dieses Landes vertreten sein soll.

Der Jenaer Soziologe Raj Kollmorgen hat die hier referierten Zahlen und Erkenntnisse zusammengetragen. Zum Beispiel: Nur zwei von 180 Vorständen von DAX-Unternehmen haben eine ostdeutsche Herkunft. In der Bundeswehr gibt es nur einen General aus den neuen Bundesländern. Immerhin: Im Bundestag sind dank Wahlrecht und Wahlkreis-Einteilung die Ostdeutschen angemessen vertreten. Und: Zwei der fünf höchsten Repräsentanten der Bundesrepublik sind Ostdeutsche: Bundespräsident Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Welche Ursachen hat nun diese Unterrepräsentierung Ostdeutscher in den Kreisen und Zirkeln der Macht? Das hat – laut Kollmorgen – vor allem mit der Art und Weise der deutschen Wiedervereinigung zu tun. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik übernahm diese auch die Gesetze und sonstigen „Spielregeln“ der BRD. Wer aber hätte diese Regeln den neuen Bundesbürgern nur vermitteln und beibringen können? Natürlich westdeutsche Eliten. Hinzu kam eine Kompromittierung vieler Angehöriger der DDR-Elite: Wer als Staatsanwalt in der DDR Grenzflüchtlinge angeklagt hatte, konnte unmöglich ein solches Amt in einem demokratischen Rechtsstaat ausüben.

Diese neuen, aus dem Westen stammenden Eliten in Ostdeutschland haben mittlerweile eigene Netzwerke gebildet, die – natürlich – vorzugsweise aus Westdeutschen bestehen und sich gegenseitig unterstützen. Für Ostdeutsche ist da wenig Platz.

Soweit der empirische Befund des Soziologen. Man kann (und muss wohl auch) die Unterrepräsentanz Ostdeutscher in den Zirkeln der Macht und des Einflusses in Deutschland beklagen. Aber: Welche spezifisch ostdeutschen Interessen sollten oder könnten ostdeutsche Eliten beispielsweise in der Bundeswehr oder in der Justiz vertreten? Kann ein ostdeutscher General dafür sorgen, dass Soldaten aus Ostdeutschland schneller befördert werden oder vorzugsweise in die weniger gefährlichen Auslandseinsätze geschickt werden? Ein Richter, egal ob er in Ost- oder Westdeutschland geboren wurde, ist an die Einhaltung von Recht und Gesetz gebunden. Besonders milde Strafen für Angeklagte aus dem Osten zu verhängen, dürfte daher kaum möglich sein.

Vielleicht spielt die Herkunft in der Wirtschaft eine größere Rolle. Möglicherweise könnte ein ostdeutscher Vorstandsvorsitzender eines Unternehmens Investitionen lieber in Mecklenburg oder Sachsen-Anhalt ansiedeln als in Hessen oder Schleswig-Holstein. Bei solchen Entscheidungen spielen aber wohl doch eher Aktionärsinteressen oder Kostenargumente eine Rolle. Und wenn ein ostdeutscher Standort zum Beispiel durch niedrigere Lohnkosten einen Vorteil hat, dann dürfte auch die Wahl eines westdeutschen Managers eher auf diesen fallen. Vermute ich. Und dass eines der DAX-Unternehmen seinen Sitz in den Osten verlagert, sobald an dessen Spitze ein Mensch mit ostdeutscher Biografie einrückt, darf bezweifelt werden.

Immerhin spielt die Herkunft wohl bei Verteilungskämpfen auf politischer Ebene eine Rolle. Dieser Tage konnte man das an der Empörung der (überwiegend aus Ostdeutschland stammenden) Ministerpräsidenten der ostdeutschen Bundesländer über die Kungelei ihrer Westkollegen beobachten, die ein paar EU-Patentgerichtsstandorte unter sich aufgeteilt hatten. Aber in der Politik spielen in erster Linie Mehrheiten eine Rolle, und die machen sich selten an landsmannschaftlichen Kriterien fest.

Was bleibt den Ostdeutschen also? Kollmorgen rät ihnen, eigene Netzwerke zu bilden und so ihren Einfluss in den Elitezirkeln zu vergrößern. Na, vielleicht hilft das. Aber die Frage bleibt: Welche spezifisch ostdeutschen Interessen kann oder will man vertreten, wenn man einmal da oben angekommen ist? Vielleicht fragen wir mal die Frau Merkel.