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Koalitionsszenarien in Hamburg: ein sozialliberales Revival?

Der frühere Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau hat vor kurzem seiner Sozialdemokratischen Partei geraten, nach den am 20. Februar stattfindenden Bürgerschaftswahlen eine Koalition mit der FDP einzugehen. SPD und Liberale hatten die Hansestadt zuletzt von 1987 bis 1991 unter der Führung Voscheraus regiert. Nach den Wahlen in diesem Jahr wäre eine solche Option nur dann überhaupt möglich, wenn die Freien Demokraten die 5%-Hürde knacken würden.

Die von Thorsten Faas im Rahmen dieses Blogs vorgelegte Analyse der inhaltlichen Schnittmengen zwischen den Hamburger Parteien auf Basis des Wahl-O-Mats deutet darauf hin, dass SPD und FDP große inhaltliche Schnittmengen haben. Nun spielen aber für die Regierungsbildung in den deutschen Bundesländern neben den inhaltlichen Positionen der Parteien und – natürlich – deren Sitzstärke im Parlament auch bundespolitische Faktoren eine Rolle. So würde eine sozialliberale Koalition in Hamburg auf bundespolitischer Ebene der Opposition aus SPD, Grünen und Linken nicht allzu viel nutzen, da im Falle der Bildung einer SPD/FDP-Koalition das Land Hamburg im Bundesrat zu den „neutralen“ und nicht zu den von der Opposition kontrollierten Ländern zählen würde. Gegeben dass die Hamburger Bürgerschaft aus fünf Fraktionen – SPD, CDU, GAL, Linke und FDP – bestehen würde (was die Umfrage von Infratest-dimap vom 3. Februar andeutet), welche Koalition wäre dann das wahrscheinlichste Ergebnis des Regierungsbildungsprozesses?

Auf der Grundlage eines Datensatzes, der die Ergebnisse aller Regierungsbildungsprozesse in den deutschen Bundesländern seit 1990 umfasst, können mit statistischen Verfahren die Wahrscheinlichkeiten dafür ermittelt werden, dass eine theoretisch mögliche Parteienkombination schlussendlich auch die Regierung bildet. Dabei werden neben der Stärke der Parteien auch die inhaltlichen Distanzen zwischen den Parteien, ihre Koalitionsaussagen sowie die bundespolitischen Muster des Parteienwettbewerbs berücksichtigt. Lässt man neben einer Koalition mit der Linken, die von SPD wie GAL ausgeschlossen wird, auch ein Bündnis zwischen Sozialdemokraten und CDU, dass die SPD ebenfalls ablehnt, bei der Berechnung außer acht, dann dominiert eindeutig Rot-Grün das Bild: Die Wahrscheinlichkeit einer Koalition aus SPD und GAL liegt bei 78%, wohingegen die Chancen für ein sozialliberales Bündnis nur 19% betragen (die angenommene Sitzverteilung in der Bürgerschaft ergibt sich anhand der Umfrageergebnisse von Infratest-dimap vom 3. Februar).

Worin liegen die Ursachen für die sehr hohe Wahrscheinlichkeit der Bildung einer rot-grünen Koalition in Hamburg nach den Wahlen vom 20. Februar 2011? Ein Grund ist die – trotz einer leichten Bewegung der FDP in die programmatische Mitte, siehe die Abbildung unten – noch immer sehr große Distanz zwischen SPD und Liberalen in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen. Ein weiterer Faktor ist die fehlende Kongruenz einer sozialliberalen Koalition in Hamburg zu der Zusammensetzung von Regierung und Opposition auf Bundesebene. Würde man den bundespolitischen Einflussfaktor nicht berücksichtigen, dann würde die Chance für die Bildung von Rot-Gelb jedoch nur leicht auf knapp 25% ansteigen. Rot-Grün würde mit einer Wahrscheinlichkeit von 72% noch immer weit vorne liegen. Von daher dürften wohl Henning Voscheraus Wünsche nach einem sozialliberalen Revival in der Hansestadt nicht Realität werden. Ein Trostpflaster dürfte jedoch sein, dass seine SPD auf jeden Fall wieder regieren und als stärkste Partei den Ersten Bürgermeister und Senatspräsidenten stellen wird.

 

Das nicht allzu überraschende vorzeitige Aus von Schwarz-Grün in Hamburg

Die Koalition von Christdemokraten und der sich in Hamburg „Grün-Alternative Liste“ (GAL) nennenden Grünen funktionierte über mehr als zwei Jahre relativ reibungslos. Ein Grund dafür wird im guten Koalitionsklima gesehen, dass maßgeblich durch die relevanten Personen in einer Koalition bestimmt wird: Mit Ole von Beust als dem Musterexemplar eines liberalen Christdemokraten konnten die Grünen in der Hansestadt vertrauensvoll regieren, was mit von Beusts Nachfolger, dem häufig „Law and Order“-Mann bezeichneten Christoph Ahlhaus, von Beginn an wesentlich schwieriger war.

Doch war nach der Bürgerschaftswahl vom Februar 2008 eine Koalition aus CDU und GAL überhaupt das optimale Ergebnis des Koalitionsbildungsprozesses? Oder wären andere Parteienkombination, die sich aus der vier Fraktionen (CDU, SPD, GAL und Linke) umfassenden Hamburger Bürgerschaft hätten ergeben könnten, von Anfang an wahrscheinlicher gewesen? Auf der Grundlage aller Regierungsbildungen in den Bundesländern von 1990 bis zur Hamburg-Wahl im Februar 2008 lassen sich mit Hilfe statistischer Verfahren die Determinanten der Koalitionsbildung ermitteln und auf dieser Basis auch die Wahrscheinlichkeiten für alle potentiell möglichen Koalitionen in der Hamburgischen Bürgerschaft für die Legislaturperiode von 2008 bis 2012 berechnen. Die Ergebnisse zeigen, dass „Schwarz-Grün“ einen starken Konkurrenten hatte: gemäß den in der Tabelle abgetragenen Wahrscheinlichkeiten war eine große Koalition aus CDU und Sozialdemokraten mit einer Chance von 48,5% nur geringfügig unwahrscheinlicher als ein Bündnis von Christdemokraten und GAL. Daran ändert sich auch nichts, wenn man die Koalitionsaussage der SPD und ihres damaligen Spitzenkandidaten Michael Naumann, kein Bündnis mit der „Linken“ einzugehen, nicht in der Analyse berücksichtigt: Noch immer dominieren Schwarz-Grün und Schwarz-Rot das Koalitionsspiel.

Koalitionsoption SPD schließt Koalition mit der „Linken“ aus SPD schließt Koalition mit der „Linken“ nicht aus
CDU und GAL 48,9% 42,2%
CDU und SPD 48,5% 41,9%
CDU-Minderheits-
regierung
1,9% 1,6%

 

Ein Grund für den „Gleichstand“ beider Parteikombinationen liegt in den programmatischen Unterschieden zwischen den Hamburger Parteien. Trotz der – im Vergleich zu anderen Landesverbänden der Union – sehr moderat ausgerichteten Hamburger CDU waren die Schnittmengen zwischen GAL und Union aufgrund ihrer Wahlprogramme deutlich geringer als zwischen SPD und Grün-Alternativen. Dies gilt sowohl für wirtschafts- und sozialpolitische Fragen als auch für das Politikfeld Gesellschaft, das auch die insbesondere für Hamburg relevante Bildungspolitik mit abdeckt. Wenn sich die programmatischen Positionen von CDU und Grünen nicht maßgeblich annähern, worauf momentan nichts hindeutet, dann wird Schwarz-Grün mittelfristig keine stabile Konstellation sein. Ob dies auch für „Jamaika-Koalitionen“ gilt, wird die Entwicklung des Bündnisses aus CDU, FDP und Grünen an der Saar in den kommenden Monaten zeigen.

 

„Stuttgart 21“ in den Programmen der baden-württembergischen Parteien seit 1992: Kein zentrales Thema der Grünen

Durch das Vermittlungsverfahren zum Großbauprojekt „Stuttgart 21“ hat sich – wohl auch aufgrund des (zumindest zeitweise) rollenden Castor-Transports – die Lage am Hauptbahnhof in der baden-württembergischen Landeshauptstadt wieder etwas beruhigt. Dennoch bleibt das Thema auf der Agenda und wird eine, wenn nicht die zentrale Rolle im Landtagswahlkampf im kommenden Frühjahr 2011 spielen. Ein Aspekt, der in der Debatte um das Ausmaß der Demonstrationen immer wieder aufkam, war die Behauptung, dass die das Projekt befürwortenden Parteien und die Landesregierung von Baden-Württemberg in den letzten Jahrzehnten ihre Haltungen zu „Stuttgart 21“ nicht deutlich genug kommuniziert hätten und daraus die momentanen Verwerfungen zwischen einem Teil der (Stuttgarter) Bürgerinnen und Bürger einerseits und CDU, FDP sowie der SPD andererseits entstanden sind. Haben Christ-, Sozial- und Freidemokraten im Südwesten wirklich dieses Thema in den letzten Jahren derart missachtet und ihre Haltungen nicht deutlich genug gemacht? Sind wirklich die Bündnisgrünen die einzige Partei, die ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Bauprojekt über einen langen Zeitraum hinweg deutlich gemacht hat?

Ein Blick in die Wahlprogramme der Parteien seit 1992 sowie in die Koalitionsabkommen der Landesregierungen kann ein wenig Licht ins Dunkel bringen. Man kann relativ einfach über die Häufigkeit der Wörter, die sich auf „Stuttgart 21“ explizit bzw. auf Infrastrukturmaßnahmen im baden-württembergischen Schienennetz allgemein beziehen, die Bedeutung dieses Themas für die Parteien bzw. – wenn man das Koalitionsabkommen heranzieht – für die Landesregierungen messen. Dabei zeigen sich erstaunliche Ergebnisse: so sind die Grünen in Baden-Württemberg mitnichten die Partei, die dieses Themengebiet am häufigsten in ihren Programmen nennt. Bei der Landtagswahl 1992 waren dies vor allem FDP und SPD: 1,6 bzw. 1,4% der Wörter in den Wahlprogrammen beider Parteien bezogen sich auf den Ausbau des Schienennetzes und dabei die – aus der Sicht dieser Parteien bestehende – Notwendigkeit, Stuttgart und den Stuttgarter Flughafen besser an den Bahn-Fernverkehr anzubinden. Auch 0,7% des Wahlprogramms der Union gingen inhaltlich in diese Richtung. Hingegen bezogen sich nur 0,1% der Wörter im Wahlprogramm der Grünen 1992 auf das Thema von Aus- und Neubau von Schienenstrecken. Zwar widmeten die südwestdeutschen Grünen zu den Landtagswahlen 1996 und 2001 diesem Thema mehr Raum in ihren Wahlprogrammen, allerdings war der Anteil inhaltlicher Aussagen zu „Stuttgart 21“ 1996 bei SPD und FDP sowie fünf Jahre später bei den Sozialdemokraten noch immer deutlich höher als in den Dokumenten der Grünen. Zur Wahl des Landesparlaments 2006 ging der Anteil an Wörtern, die sich auf Bahnbauprojekte in Baden-Württemberg bezogen, bei den Grünen im Vergleich zu 2001 sogar von 1% auf 0,6% zurück, wohingegen neben der SPD auch die CDU dieses Issue in höherem Ausmaß ansprachen.

Es gilt somit festzuhalten, dass die Grünen in Baden-Württemberg auf keinen Fall die Partei bei den vergangenen Landtagswahlen waren, die dieses Thema in ihren Wahlprogrammen in besonders hervorgehobener Weise angesprochen und problematisiert hatten. Dies taten auch – und noch dazu in zum Teil deutlich größerem Ausmaß – SPD, Liberale und die Christdemokraten. Zudem widmet sich ein nicht unerheblicher Teil der Koalitionsabkommen den Themengebieten „Schienennetz“ und „Stuttgart 21“ in sehr expliziter Form. Letzteres gilt insbesondere für den „schwarz-roten“ Koalitionsvertrag aus dem Jahr 1992, aber auch für das zweite christlich-liberale Koalitionsabkommen von 2001. Somit mögen zwar von Seiten der Landesregierung und der sie tragenden Parteien das Thema „Stuttgart 21“ und seine Implikationen nicht in ausreichender Form während der Legislaturperiode der Wählerschaft kommuniziert worden sein. Allerdings haben alle Parteien – insbesondere SPD, FDP und auch die CDU – ihre inhaltlichen Positionen zu diesem Thema im Durchschnitt seit 1992 mehr Gewicht in den Wahlprogrammen beigemessen als es die Grünen taten. Es scheint daher so, als ob die Grünen die wahlstrategische Bedeutung von „Stuttgart 21“ erst mit der Kommunalwahl 2009 entdeckt haben und nun versuchen, durch die explizite Herausstellung dieses Themas bei der Landtagswahl 2011 auf Stimmenfang zu gehen. Ob sich die Abkehr der SPD von Stuttgart 21 – „für die rasche Realisierung der Schnellbahntrasse Stuttgart/Ulm“ (SPD-Wahlprogramm 1992); „Mit „Baden-Württemberg 21“ das Land zum Treffpunkt Europas machen“ (SPD-Wahlprogramm 2001) – auszahlen wird, kann eher bezweifelt werden. Wähler mögen es in der Regel nicht, wenn Parteien inhaltliche Positionen auf einmal ins Gegenteil verkehren.

 

Das rot-grüne Koalitionsabkommen in NRW: wirklich ein Angebot nur an die Linke?

Die Bildung der rot-grünen Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen hat in den letzten Tagen die Debatte entfacht, ob solche Bündnisse künftige Optionen für die Bundesebene darstellen. Die Diskussion darüber basiert auch auf der Beobachtung, dass Minderheitsregierungen im internationalen Vergleich durchaus erfolgreiche Modelle darstellen, die in ihrer Stabilität solchen Koalitionsregierungen, die sich auf eine Mehrheit im Parlament stützen können, in nichts nach stehen. Auch die Minderheitsregierungen, die bereits auf Ebene der deutschen Bundesländer wie etwa in Sachsen-Anhalt von 1994 bis 2002 bestanden, wurden nicht vorzeitig durch Koalitionen abgelöst, die über eine Mehrheit im entsprechenden Landtag verfügt hätten.

Minderheitsregierungen benötigen aber nichtsdestotrotz die Unterstützung von Abgeordneten der Opposition, so dass die inhaltlichen Vorschläge der Regierung von einer Mehrheit im Parlament verabschiedet werden können. Um dieses Ziel zu erlangen kann eine Minderheitsregierung sich entweder von Gesetzesinitiative zu Gesetzesinitiative wechselnde Partner im Parlament suchen, die das jeweilige Vorhaben unterstützen. Oder die entsprechende Minderheitsregierung konzentriert sich auf eine bestimmte Oppositionspartei und vereinbart eine fixe Unterstützung für die gesamte Legislaturperiode.

Die neu gewählte nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) scheint die erstgenannte Strategie vorzuziehen und nicht nur auf die Stimmen der Linken, sondern auch auf partielle Unterstützung von CDU und FDP im Landtag von NRW zu setzen. Ist diese Hoffnung von Frau Kraft begründet? Eine Möglichkeit, diese Frage zu beantworten, liegt in der Analyse der im Koalitionsabkommen von Rot-Grün festgelegten inhaltlichen Ziele, die in der kommenden Legislaturperiode umgesetzt werden sollen. Mit Hilfe inhaltsanalytischer Verfahren lassen sich die Positionen der Parteien in Nordrhein-Westfalen auf Grundlage der Wahlprogramme sowie der Landesregierung auf Basis des Koalitionsabkommens für die Politikbereiche Wirtschaft und Soziales einerseits sowie Gesellschaft andererseits bestimmen. Die folgende Abbildung zeigt die Positionen der nordrhein-westfälischen Parteien zur Wahl 2010 sowie der Landesregierungen 2005 und 2010 (die Balken um die ermittelten Positionen geben den statistischen Schwankungsbereich an).

Es wird zum einen deutlich, dass sich – wie erwartet – die in den Koalitionsabkommen von Schwarz-Gelb und Rot-Grün formulierten Politikziele deutlich unterscheiden: so umfasste das Koalitionsabkommen von CDU und FDP aus dem Jahr 2005 wirtschaftsliberalere und gesellschaftspolitisch konservativere Positionen als das Regierungsprogramm von SPD und Bündnisgrünen vom Juli 2010. Dieser von Rot-Grün beabsichtigte Politikwandel in Richtung einer stärker auf sozialen Ausgleich setzenden Wirtschaftspolitik sowie einer progressiveren Gesellschaftspolitik – sichtbar etwa an den schulpolitischen Vorhaben der Regierung Kraft/Löhrmann – sollte der Fraktion der Linken deutlich lieber sein als die vom Kabinett Rüttgers/Pinkwart betriebenen Politik.

Dennoch ist die Distanz zwischen der ermittelten Position des Wahlprogramms der Linken und dem rot-grünen Koalitionsabkommen nicht unbeträchtlich. Dies gilt insbesondere für wirtschafts- und sozialpolitische Fragen. Vielmehr kann die rot-grüne Regierung in NRW auf die Unterstützung der CDU im letztgenannten Politikbereich hoffen, da sich das Wahlprogramm der Christdemokraten kaum von der wirtschaftspolitischen Position des Koalitionsabkommens unterscheidet. In gesellschaftspolitischen Fragen könnte Rot-Grün auf die Unterstützung der FDP hoffen, da es hier deutliche Schnittmengen zwischen Liberalen und dem Programm der neuen Landesregierung gibt. Sollten sich also CDU und FDP von Inhalten und weniger von Parteipolitik in ihrem Verhalten im Landtag leiten lassen, dann kann die Regierung Kraft/Löhrmann in der Tat darauf hoffen, von Fall zu Fall Mehrheiten für Gesetzesvorlagen zustande zu bekommen. Dabei wäre nicht unbedingt die Linke die Fraktion, auf die Rot-Grün Rücksicht nehmen sollte, sondern vielmehr Christ- und Freidemokraten aufgrund der – sich nach Politikfeld unterscheidenden – vorhandenen inhaltlichen Schnittmengen. Von daher gibt es große Chancen, dass die rot-grüne Minderheitsregierung die komplette Legislaturperiode überdauert, wenn Frau Kraft geschickt agiert und alle Oppositionsfraktionen in den Prozess der Politikgestaltung mit einbezieht.

 

Nach der Wahl: Große Koalition oder Rot-Rot-Grün in NRW?

Das Ergebnis der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen stellt die Parteien – insbesondere SPD, FDP und Grüne – vor schwierige Entscheidungen. Dies rührt daher, dass – wie in Hessen nach der Landtagswahl 2008 – nur solche Koalitionen über eine Mehrheit im Parlament verfügen, die von mindestens einer beteiligten Partei entweder vorab ausgeschlossen wurden oder nicht besonders gewünscht werden. Ersteres trifft auf die Ampelkoalition und ein Jamaika-Bündnis zu, die beide in einem Parteitagsbeschluss der Liberalen kurz vor der Landtagswahl abgelehnt wurden. Eine Koalition der beiden großen Parteien CDU und SPD sowie eine Linkskoalition aus Sozialdemokraten, Grünen und der ‚Linken’ entspricht wiederum nicht den Wunschvorstellungen der jeweiligen Parteien.

Kurz vor der Wahl sind wir bei der Berechnung der Wahrscheinlichkeiten für die verschiedenen Koalitionen aufgrund der Umfrageergebnisse von zwei Szenarien ausgegangen, bei denen jeweils – im Gegensatz zum Ergebnis der Landtagswahl – von der CDU als der stärksten Partei im Düsseldorfer Landtag ausgegangen wurde. Im ersten Szenario hatte eine Koalition aus CDU und Grünen, nicht jedoch ein rot-grünes Bündnis eine Mehrheit im Parlament. Den Ergebnissen zufolge wäre die Bildung einer ‚schwarz-grünen’ Koalition das wahrscheinlichste Ergebnis des Regierungsbildungsprozesses gewesen. In Szenario 2 verfügten CDU und Grüne hingegen über keine Mehrheit im Parlament. Auf Basis dieser Sitzverteilung sowie aufgrund der programmatischen Positionen der Parteien und der Koalitionsaussagen ergab sich die höchste Wahrscheinlichkeit für eine große Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten.

Was ist unter den gegebenen Bedingungen nun das wahrscheinlichste Ergebnis des Regierungsbildungsprozesses in Nordrhein-Westfalen? Offenbar bleibt es dabei, dass SPD und Grüne eine Koalition mit der ‚Linken’ nicht ausschließen und damit die FDP ihre Absage an ein Bündnis, dass SPD und/oder Grüne mit einschließt, aufrechterhält. In diesem Fall ist ein Bündnis der beiden großen Parteien wahrscheinlicher als eine rot-rot-grüne Koalition. Jedoch ist der Unterschied zwischen den ermittelten Wahrscheinlichkeiten für beide Koalitionen nicht allzu groß: während die Bildung einer CDU/SPD-Koalition eine Chance von 54% erhält, so liegt die Wahrscheinlichkeit für die Formierung einer Linkskoalition bei knapp 40%. Hätten SPD und Grüne doch ein Bündnis mit der ‚Linken’ ausgeschlossen und damit Verhandlungen über eine Ampelkoalition den Weg geebnet, dann wäre die Situation zwar deutlich offener, jedoch wäre noch immer eine große Koalition das wahrscheinlichste Ergebnis des Regierungsbildungsprozesses mit einer Chance von gut 47%. An zweiter Stelle würde mit einer Wahrscheinlichkeit von rund einem Drittel die ‚Jamaika’-Koalition aus CDU, Liberalen und Grünen anstelle einer ‚Ampel’ landen. Ein rot-gelb-grünes Bündnis folgt erst auf Platz 3 mit einer Wahrscheinlichkeit von 15,6%.

Tabelle 1: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Koalitionsoptionen in Nordrhein-Westfalen auf Grundlage der endgültigen Sitzverteilung

Koalitionsoption Absage einer Ampel- und Jamaika-Koalition der FDP wird aufrechterhalten Absage einer Ampel- und Jamaika-Koalition der FDP wird aufgehoben; SPD und Grüne schließen Bündnis mit der ‚Linken’ aus
CDU und SPD 53,8% 47,1%
SPD, Grüne und Linke 39,9% 0%
SPD, Grüne und FDP 0% 15,6%
CDU, Grüne und FDP 0% 31,9%

Die schlechten Chancen für die Bildung einer Ampelkoalition resultieren vor allem aus den großen inhaltlichen Differenzen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zwischen der FDP auf der einen und SPD und Grünen auf der anderen Seite. Insofern wäre ohnehin fraglich gewesen, ob Verhandlungen von SPD, FDP und Grünen von Erfolg gekrönt gewesen wären. Die Modellberechnungen können allerdings nicht mit einbeziehen, dass es in einem Bündnis zweier beinahe gleich starker Parteien Konflikte um die Besetzung des Ministerpräsidentenamts geben wird. Ebenso werden innerparteiliche Konflikte zu den verschiedenen Koalitionsoptionen nicht berücksichtigt. Von daher sind die Chancen für eine große Koalition zwar besser als die eines rot-rot-grünen Bündnisses, allerdings spielen eine Reihe von Unwägbarkeiten eine Rolle, die die Bildung beider Koalitionsoptionen erschweren können. Von daher: alles offen in NRW.

 

Im Falle eines Falles: Was käme nach Schwarz-Gelb in Nordrhein-Westfalen?

Das Spekulieren um die parteipolitische Zusammensetzung einer Regierung im Vorfeld einer Bundes- oder Landtagswahl gehört mittlerweile zum Standard der Medienberichterstattung. Eine maßgebliche Ursache dafür sind die in den letzten Jahren immer häufiger auftretenden ‚negativen’ Koalitionsaussagen: die Parteien teilen nicht nur mit, mit wem sie gerne nach der Wahl koalieren wollen, sondern auch, mit wem sie auf keinen Fall in eine Koalition eintreten möchten. Dies ist auch im Fall der nordrhein-westfälischen Landtagswahl am kommenden Sonntag nicht anders. So hat die dortige FDP erst am letzten Wochenende eine Koalition mit SPD oder Grünen mit der Begründung ausgeschlossen, dass beide Parteien nicht explizit eine Zusammenarbeit mit der Linken nach der Wahl ablehnen. Offenbar werden nun auch die Bündnisstrategien anderer parteipolitischer Wettbewerber als ein maßgeblicher Grund dafür herangezogen, dass man selbst bestimme Koalitionsmöglichkeiten von vorneherein ablehnt.

Betrachtet man die jüngsten Umfrageergebnisse für die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai, dann erreichen die beiden „Wunschkoalitionen“ aus CDU und FDP einerseits sowie SPD und Grünen andererseits sehr wahrscheinlich keine Mehrheit im Parlament. Würde auch ein „schwarz-grünes“ Bündnis keine Mandatsmehrheit im Düsseldorfer Landtag erreichen, wie es die Ergebnisse des ZDF-Politbarometers vom 30. April vermuten lassen, dann wären neben einer „großen Koalition“ aus Christ- und Sozialdemokraten nur Bündnisse aus drei Parteien mit einer parlamentarischen Mehrheit ausgestattet. Zwei der drei bekanntesten „Dreier-Kombinationen“ – die „Ampel“ aus SPD, FDP und Grünen sowie eine „Jamaika“-Koalition aus CDU, Liberalen und Grünen – haben die Freidemokraten an Rhein und Ruhr mit ihrem auf dem Aachener Landesparteitag verabschiedeten Wahlaufruf bereits ausgeschlossen. Eine etwaige Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Linken wird zwar weder von Rot noch von Grün gewünscht, offiziell ausgeschlossen ist sie jedoch nicht.

Wie wahrscheinlich sind nun die verschiedenen Koalitionsoptionen in NRW, wenn man gängige Theorien der Regierungsbildung zugrunde legt und diese empirisch testet? Auf der Grundlage aller Regierungsbildungen in Bund und Ländern seit 1990 lassen sich mit Hilfe multivariater statistischer Analysen die Determinanten der Koalitionsbildung in Deutschland ermitteln und auf dieser Basis auch die Wahrscheinlichkeiten für alle potentiell möglichen Koalitionen berechnen. In die Berechnung fließen die Stärke der Parteien im Parlament, ihre programmatischen Positionen, die anhand einer Analyse der Landtagswahlprogramme gewonnen werden, die Koalitionsaussagen der Parteien sowie die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat ein. Für Nordrhein-Westfalen wird die Sitzverteilung im neuen Landtag anhand der Ergebnisse des ZDF-Politbarometers vom 30. April, wo ein schwarz-grünes Bündnis keine Mehrheit hätte, sowie von Forsa vom 28. April, nach der eine Koalition aus CDU und Grünen hingegen über eine Mehrheit der Sitze im Landtag verfügen würde, berechnet.

Im Rahmen dieses Blogs wurde dieses Verfahren bereits für die Landtagswahlen in Brandenburg, dem Saarland und in Thüringen im letzten Herbst mit Erfolg durchgeführt: die schließlich gebildeten Koalitionen wiesen in zwei der drei Bundesländer – in Thüringen und dem Saarland – die höchste Wahrscheinlichkeit auf (vgl. Bräuninger & Debus 2009). Für Nordrhein-Westfalen ergibt sich das in der folgenden Tabelle abgetragene Bild.

Tabelle 1: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Koalitionsoptionen in Nordrhein-Westfalen

Koalitionsoption Berechnete Sitzverteilung auf Grundlage der Ergebnisse von Forsa vom 28. April Berechnete Sitzverteilung auf Grundlage der Ergebnisse des Politbarometers vom 30. April
CDU und Grüne 65,3% 0,5%
CDU und SPD 29,9% 85,9%
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Linke 2,8% 7,9%

 

Den Ergebnissen zufolge wäre – für den Fall, dass Union und FDP eine Mehrheit im Landtag verfehlen würden und eine parlamentarische Mehrheit für ein schwarz-grünes Bündnis bestünde – eine Koalition aus CDU und Grünen die mit Abstand wahrscheinlichste Koalitionsoption (65,3%). Ein Bündnis der beiden großen Parteien CDU und SPD würde auf Platz 2 mit einer Wahrscheinlichkeit von knapp 30% landen, während ein Linksbündnis mit 2,8% äußerst unwahrscheinlich sind. Sollte das Wahlergebnis so aussehen, dass im nächsten Landtag auch CDU und Grüne über keine Mehrheit verfügen würden, dann ist ein Bündnis der beiden großen Parteien der sehr wahrscheinliche Ausgang des Regierungsbildungsprozesses.

Wieso erreicht schwarz-grün eine so hohe Wahrscheinlichkeit? Zum einen bevorzugt eine große Partei in der Regel eine Koalition mit einer kleineren parlamentarisch vertretenen Kraft, um so bei der Besetzung der Kabinettsposten, die in der Regel den Kräfteverhältnissen innerhalb der Koalition entspricht und somit proportional erfolgt, einen möglichst hohen Anteil an Ämtern zu gewinnen. Zum anderen zeigt die Analyse der Wahlprogramme der nordrhein-westfälischen Landesparteien, dass die Christdemokraten an Rhein und Ruhr in der Wirtschafts- und Sozialpolitik sehr moderat und nicht wirtschaftsliberal ausgerichtet sind, so dass die Übereinstimmung mit Grünen oder SPD in diesem Politikfeld recht groß ist. Sollte also schwarz-gelb in Düsseldorf keine Mehrheit erreichen, dann könnte NRW nach Hamburg das zweite Bundesland werden, in dem CDU und Grüne gemeinsam die Regierung stellen. Wenn Christdemokraten und/oder Grüne jedoch schwächer abschneiden und keine gemeinsame Mehrheit im Landtag erreichen, dann stehen die Zeichen auf Bildung einer „großen Koalition“.

Literatur

Bräuninger, Thomas & Marc Debus (2009): Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot, Jamaika oder die Ampel? Koalitionsbildungen in Bund und Ländern im Superwahljahr 2009. Zeitschrift für Politikberatung 2: 3, 563-567. [http://dx.doi.org/10.1007/s12392-009-0215-2]

 

Koalitionspoker in Nordrhein-Westfalen: was passiert, wenn Schwarz-Gelb die Mehrheit in Düsseldorf verliert?

Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen Anfang Mai diesen Jahres steht im Zentrum der Aufmerksamkeit der Parteien wie auch der politischen Beobachter. Dies hat mit einer Vielzahl von Gründen zu tun. Erstens ist bei einer Niederlage für CDU und FDP in Düsseldorf die Mehrheit der Bundesregierung in der Länderkammer dahin, was das „Durchregieren“ des Kabinetts Merkel/Westerwelle deutlich erschweren würde. Zweitens bleibt abzuwarten, in welchem Ausmaß sich die Sponsorenaffäre um Ministerpräsident Jürgen Rüttgers und die NRW-CDU auf den weiteren Verlauf des Wahlkampfs und schließlich auf das Wahlergebnis auswirken wird. Drittens ist die Landtagswahl an Rhein und Ruhr ein erster Test für die nicht allzu glücklich agierende Bundesregierung. Zudem ist Nordrhein-Westfalen aufgrund seiner Stellung als einwohnerstärkstes Bundesland von großer Bedeutung im föderalen System Deutschlands sowie für den bundesdeutschen Parteienwettbewerb. So wurden bereits verschiedene Koalitionsoptionen in Nordrhein-Westfalen auf ihre „Tauglichkeit“ hin getestet, bevor sie von den Parteien in Bonn oder Berlin als Regierungskoalition installiert wurden. Beispiele hierfür sind etwa die von 1956 bis 1958 bestehende sozialliberale Koalition in Nordrhein-Westfalen unter Ministerpräsident Steinhoff (SPD) sowie das rot-grüne Bündnis, das Johannes Rau nach dem Verlust der absoluten Mandatsmehrheit im Landtag 1995 eingehen musste.

Jüngste Umfragen wie die des ZDF-Politbarometers vom 19. März machen in der Tat deutlich, dass es für schwarz-gelb knapp werden wird. Momentan würden Union und FDP im Landtag von Nordrhein-Westfalen keine Mehrheit erreichen. Damit gewinnt die schon seit Wochen virulente Koalitionsdebatte noch mehr an Fahrt. Auf der Grundlage der bislang vorliegenden Statements der Parteien können nur solche Koalitionen ausgeschlossen werden, die CDU, FDP und die „Linke“ umfassen würde. Zwar präferieren Union und Liberale eine Neuauflage der amtierenden schwarz-gelben Koalition, allerdings haben Bündnisgrüne wie auch die Christdemokraten in NRW ein gemeinsames Regierungsbündnis nicht ausgeschlossen. Auch die FDP hat – überraschenderweise – bislang die Bildung einer Ampelkoalition mit Sozialdemokraten und Grünen nicht a priori abgelehnt. Dies gilt auch für eine Koalition aus SPD, Grünen und der „Linken“. Zwar werden letztere nicht als besonders regierungsfähig von Sozialdemokraten wie Grünen wahrgenommen, aber ein solches Bündnis ausschließen will die SPD-Spitzenkandidaten Hannelore Kraft wie auch die Führung der Grünen nicht.

Wie wahrscheinlich sind aber nun all diese Koalitionsmöglichkeiten? Auf der Grundlage aller Regierungsbildungen in Bund und Ländern seit 1990 lassen sich mit Hilfe multivariater statistischer Analysen die Determinanten der Koalitionsbildung in Deutschland ermitteln und auf dieser Basis auch die Wahrscheinlichkeiten für alle potentiell möglichen Koalitionen berechnen. In die Berechnung fließen die Stärke der Parteien im Parlament, ihre programmatischen Positionen, die anhand einer Analyse der Landtagswahlprogramme gewonnen werden, die Koalitionsaussagen der Parteien sowie die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat ein. Für Nordrhein-Westfalen wird die Sitzverteilung im neuen Landtag anhand der Ergebnisse des ZDF-Politbarometers vom 19. März berechnet. Die Landtagswahlprogramme der Parteien liegen bei CDU, SPD, FDP, den Grünen und der Linken entweder als Entwurf oder bereits in endgültiger Form vor.

Im Rahmen dieses Blogs wurde dieses Verfahren bereits für die Landtagswahlen in Brandenburg, dem Saarland und in Thüringen im letzten Herbst mit Erfolg durchgeführt: die schließlich gebildeten Koalitionen wiesen in zwei der drei Bundesländer – in Thüringen und dem Saarland – die höchste Wahrscheinlichkeit auf (vgl. Bräuninger/Debus 2009). Für Nordrhein-Westfalen ergibt sich das in der folgenden Tabelle abgetragene Bild.

Tabelle 1: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Koalitionsoptionen in Nordrhein-Westfalen

Koalitionsoption Wahrscheinlichkeit
CDU und Bündnis 90/Die Grünen 64,3%
CDU und SPD 29,5%
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Linke 2,8%
SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen 1,2%

 

Den Ergebnissen zufolge wäre – für den Fall, dass Union und FDP eine Mehrheit im Landtag verfehlen würden – eine schwarz-grüne Koalition die mit Abstand wahrscheinlichste Koalitionsoption nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Ein Bündnis der beiden großen Parteien CDU und SPD würde auf Platz 2 mit einer Wahrscheinlichkeit von knapp 30% landen, während ein Linksbündnis wie auch eine „Ampelkoalition“ mit 2,8% bzw. 1,2% äußerst unwahrscheinlich sind. Ein Grund für die Unwahrscheinlichkeit der „Ampel“ ist der große Gegensatz zwischen SPD und Grünen in wirtschaftspolitischen Fragen auf der einen und den Freidemokraten auf der anderen Seite. Die NRW-CDU ist hingegen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik sehr moderat ausgerichtet, so dass die Übereinstimmung mit mit Grünen oder SPD größer ist. Sollte also schwarz-gelb in Düsseldorf keine Mehrheit erreichen, dann könnte NRW nach Hamburg das zweite Bundesland werden, in dem CDU und Grüne gemeinsam die Regierung stellen. Ob das dann ein Zeichen für den Bund ist, bliebe dann abzuwarten.

Literatur
Bräuninger, Thomas & Marc Debus (2009): Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot, Jamaika oder die Ampel? Koalitionsbildungen in Bund und Ländern im Superwahljahr 2009. Zeitschrift für Politikberatung 2: 3, 563-567. [http://dx.doi.org/10.1007/s12392-009-0215-2]

 

Wer hat sich besser durchgesetzt? Das schwarz-gelbe Koalitionsabkommen und die Wahlprogramme der Regierungsparteien im Vergleich

Während Wahlprogramme dazu dienen, die Positionen politischer Parteien auf verschiedenen Politikfeldern zu vermitteln, so stellen Koalitionsabkommen das ausgehandelte Dokument mehrerer Parteien dar, in denen sich die inhaltlichen Kompromisse der neuen Regierung wieder finden. CDU/CSU und FDP haben sich nach knapp vier Wochen Koalitionsverhandlungen auf ein 128 Seiten langes Dokument als Grundlage ihrer gemeinsamen Politik der künftigen Legislaturperiode geeinigt. Darin werden wie in den Wahlprogrammen alle relevanten Politikbereiche – von Wirtschaft, Arbeit und Soziales über Finanzen, Außen-, Sicherheits- und Europapolitik bis hin zu Innen-, Justiz-, Familien- und Bildungspolitik – abgehandelt. Es bietet sich somit an, die Positionen, die die Parteien in den Wahlprogrammen geäußert haben, mit denjenigen zu vergleichen, die sich im neuen Koalitionsabkommen wieder finden.

Eine Analyse der Wahlprogramme der Bundestagsparteien mit dem Entwurf des schwarz-gelben Koalitionsabkommens mit Hilfe des wordscore-Verfahrens kann hierüber Aufschluss geben. Es wird unterschieden zwischen einer wirtschaftspolitischen Links-Rechts-Dimension einerseits sowie einer Dimension, die zwischen progressiven und konservativen Positionen in der Gesellschaftspolitik differenziert. Zusätzlich zu den Wahlprogrammen und dem Koalitionsabkommen aus dem Jahr 2009 werden die programmatischen Dokumente aus dem Jahr 2005 in die Analyse mit einbezogen, um so Veränderungen in den ausgehandelten Politikzielen zwischen der großen Koalition Merkel/Steinmeier und der neuen Bundesregierung Merkel/Westerwelle zu evaluieren.

In der Abbildung sind die ermittelten Positionen der Parteien auf der Grundlage ihrer Wahlprogramme aus den Jahren 2005 und 2009 sowie der beiden Koalitionsabkommen eingezeichnet. Auf den ersten Blick ergibt sich ein überraschendes Ergebnis: im Vergleich zum Koalitionsabkommen der großen Koalition liegt der Regierungsvertrag von Union und FDP wirtschaftspolitisch weiter in der Mitte der sozioökonomischen Links-Rechts-Dimension. In innen-, rechts- und gesellschaftspolitischen Fragen ergibt sich eine etwas konservativere Position für den Koalitionsvertrag von Union und Liberalen im Gegensatz zu dem im November 2005 ausgehandelten Abkommen und Christ- und Sozialdemokraten. Wenn man jedoch genauer hinsieht, dann zeigt sich, dass die ermittelte Position des neuen Koalitionsabkommens gar nicht so überraschend ist: zu erwarten wäre gewesen, dass sich CDU/CSU und FDP auf ein Programm einigen, dass auf der gestrichelt eingezeichneten Linie und damit zwischen den Positionen beider Regierungsparteien liegt. Da die Union 239 Abgeordnete und damit 72% und die FDP lediglich 93 Mandate und damit 28% in die Mehrheit der Regierung im Bundestag einbringt, sollte das Koalitionsabkommen auf dieser Geraden zwischen den beiden Koalitionsparteien näher an der Union als an der FDP liegen.

Nun zeigt sich, dass der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP nicht ganz auf dieser Pareto-optimalen Geraden liegt, sondern wirtschaftspolitisch näher an der Position des Unions-Wahlprogramms von 2009 und gesellschaftspolitisch näher am 2009er Wahlprogramm der Liberalen. Offenbar konnten sich CDU und CSU in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen besser durchsetzen, während dies der FDP in der Innen-, Rechts- und Gesellschaftspolitik gelang. Dieses zwischen den Koalitionsparteien „schiefe“ Verhältnis war 2005 hingegen noch weiter ausgeprägt: damals konnte sich die Union nahezu vollkommen in sozioökonomischen Fragen durchsetzen und die SPD im gesellschaftspolitischen Bereich. Dieses Missverhältnis kann durchaus dazu beigetragen haben, dass die Sozialdemokraten so stark an Wählerzuspruch verloren haben, da sich ihre Handschrift kaum in dem für die SPD so zentralen Politikfeld Wirtschaft und Soziales wieder fand und dementsprechend in geringem Ausmaß ökonomische Politik im Sinne des SPD-Wahlprogramms 2005 durch die große Koalition implementiert wurde. Inwiefern die FDP, die sich den hier dargestellten Ergebnissen zufolge auch in ihrem zentralen Bereich der Wirtschaft-, Sozial- und Finanzpolitik bei weitem nicht vollständig durchsetzen konnte, ähnliche Verluste auf Wählerebene erleiden muss wie die SPD werden die kommenden Landtagswahlen zeigen.

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Sozialdemokratische Dilemmata und grüne Königsmacher

Die Diskussion innerhalb der SPD dreht sich im Zuge ihrer drastischen Wahlniederlage bei der Bundestagswahl vom 27. September vor allem um den künftigen programmatischen Kurs und die Implikationen, die ein Richtungswechsel nach links bergen würde. Während der moderate, den wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen der Schröder-Regierung zugeneigte Parteiflügel eine Beibehaltung des „Agenda 2010“-Kurses auch in der Opposition befürwortet, um nicht noch weiter Wähler aus der „Mitte“ an Union und FDP zu verlieren, so pocht die innerparteiliche Linke auf einen programmatischen Wandel, um die Wähler zurück zu gewinnen, die entweder bei der „Linken“ eine neue politische Heimat gefunden haben oder bei den letzten Wahlen zum Lager der Nichtwähler gehörten.

Beide Strategien bergen in der Tat Gefahren für die SPD und ihre Chance, erneut eine Regierung unter ihrer Führung zu bilden. Bleibt die SPD bei ihrer momentanen programmatischen Position, dann steht zu erwarten, dass sich die „Linke“ stabilisiert und als neuer Verbündeter der Gewerkschaften etabliert. Sollte sie sich programmatisch nach links entwickeln, dann droht ihr hingegen eine ähnliche Situation wie bereits in den 1980er und frühen 1990er Jahren: Union und FDP würden dann die Mehrheit der moderat ausgerichteten Wählerschaft für sich gewinnen können. Ein Wahlsieg eines potentiellen rot-rot-grünen Linksbündnisses wäre damit mittelfristig nicht realistisch, sondern erst dann, wenn – wie 1998 – die Frustration über eine zu lang andauernde schwarz-gelbe Regierung der Opposition zu Gute kommen würde. Die SPD läuft also Gefahr, die Stimmen auf der einen Seite zu verlieren, die sie auf der anderen Seite gewonnen hat.

Diesem offensichtlichen Dilemma gesellt sich jedoch noch ein zweites, viel schwerwiegenderes Problem hinzu, dem die Sozialdemokraten kaum durch eigenes Handeln entrinnen können. Wie die Entscheidung der saarländischen Grünen zugunsten einer Jamaika-Koalition, die im übrigen wie auch die sich abzeichnende CDU/SPD-Koalition in Thüringen in diesem Blog korrekt vorhergesagt wurde, und damit gegen ein rot-rot-grünes Bündnis gezeigt hat, kann die SPD nicht – wie bislang – nahezu automatisch auf die Bündnisgrünen als Teil einer potentiellen Koalition gemeinsam mit der „Linken“ gegen Schwarz-Gelb zählen. Gesetzt den Fall, dass Union und Liberale bei der nächsten Bundestagswahl eine Mandatsmehrheit verfehlen würden, dann muss es also nicht zwangsläufig auf eine rot-rot-grüne Koalition hinauslaufen. Vielmehr könnten Bündnis 90/Die Grünen durchaus als teuer bezahlter Mehrheitsbeschaffer ein Weiterregieren von Christ- und Freidemokraten auf Bundesebene auch nach 2013 ermöglichen. Wie das aussehen kann hat man in den letzten Wochen im Saarland sehen können: Obwohl sie die kleinste Partei im Saarbrücker Landtag mit nur drei von 51 Sitzen darstellen, wurden den Grünen bereits vor den Koalitionsverhandlungen beachtliche inhaltliche Zusagen sowie zentrale Ministerien von CDU und FDP auf der einen wie auch von SPD und Linken auf der anderen Seite zugesichert.

Damit sind die Grünen in jener komfortablen Situation des Züngleins an der Waage, die im westdeutschen „Zweieinhalb-Parteiensystem“ von 1961 bis 1983 noch die FDP innehatte. Der Unterschied ist lediglich, dass die Liberalen noch die Wahl zwischen Union und SPD hatten, während die Grünen nun zwischen zwei Parteiblöcken – CDU/CSU und FDP auf der einen und SPD und Linke auf der anderen Seite – haben. Aus dieser Perspektive betrachtet sind die Freidemokraten eher der kurzfristige Wahlsieger, während die Grünen zum heiß ersehnten Koalitionspartner für den schwarz-gelben und rot-roten Block avancieren. Diese offensichtliche Emanzipation der Grünen, aus den parteipolitischen Lagergrenzen in Deutschland auszubrechen, schmälert noch mehr die Chancen der Sozialdemokraten, tonangebende Partei in künftigen Koalitionsregierungen zu werden. Sie werden – wenn es für eine Mehrheit aus SPD und Linken oder Union und FDP nicht alleine reicht – entweder ein handzahmer Juniorpartner der Union sein oder den Grünen viele Ämter und Inhalte überlassen müssen, um einer „Jamaika“-Koalition vorzubeugen. Egal ob die SPD inhaltlich nach links rückt oder an ihrer moderat-linken Reformposition festhält, die Chancen der Sozialdemokraten auf das Kanzleramt werden aufgrund der neu gewonnenen zentralen Rolle der Grünen im bundesdeutschen Koalitionsspiel weiter sinken.

 

Schwarz-gelb in Berlin und Kiel, aber was kommt in Erfurt, Potsdam und Saarbrücken?

Während die Koalitionsbildung auf Bundesebene und in Schleswig-Holstein sich aufgrund des in Berlin klaren, in Kiel jedoch knappen Wahlerfolgs von Union und FDP wohl relativ einfach gestalten wird (wenn auch einige inhaltliche Konfliktfelder die Verhandlungen erschweren werden), so ist nach wie vor die Regierungsbildung in Thüringen, dem Saarland und in Brandenburg, wo am vergangenen Sonntag ein neuer Landtag gewählt wurde, eine offene Frage. Die Parteien in Thüringen und dem Saarland haben explizit den Wahlausgang vom 27. September abgewartet, um zum einen durch ihre Entscheidungen nicht die Wahlkampfstrategie der Bundesparteien zu durchkreuzen. Zum anderen aber auch, um die künftigen Machtkonstellationen auf Bundesebene abzuwarten. Diese haben sich mit dem Sieg von schwarz-gelb bei den Bundestagswahlen und bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein deutlich verschoben: So wird sich nicht nur die Zusammensetzung der Bundesregierung von schwarz-rot zu einer christlich-liberalen Koalition ändern, sondern Union und FDP werden durch den Sieg in Kiel auch im Bundesrat über eine – wenn auch knappe – Mehrheit verfügen.

Welche Effekte haben diese neuen Rahmenbedingungen für die Regierungsbildung in Thüringen und dem Saarland, wo bislang nur Sondierungsgespräche zwischen den Parteien stattgefunden haben, und in Brandenburg, wo die SPD zwischen Union und der Linken als dem künftigem Koalitionspartner wählen kann? Man kann erwarten, dass auf Seiten der Sozialdemokraten ein Anreiz besteht, sich zum einen neue Koalitionsoptionen mit der Linken langfristig zu eröffnen und daher Bündnisse mit dieser Partei in den Ländern verstärkt einzugehen. Zum andern würde die Bildung von Koalitionen mit der CDU die Chancen zur Etablierung einer SPD-Blockademacht im Bundesrat mittelfristig senken: die Bildung von so genannten „C-Koalitionen“ und damit solchen Landesregierungen, die sich aus Parteien zusammensetzt, die auf Bundesebene dem Regierungs- als auch dem Oppositionslager angehören, sollte von Seiten der SPD weniger wünschenswert sein als „B-Koalitionen“, die sich ausschließlich aus den bundespolitischen Oppositionsparteien formieren.

Auf der Grundlage aller Regierungsbildungen in Bund und Ländern lassen sich mit Hilfe multivariater statistischer Analysen die Determinanten der Koalitionsbildung in Deutschland ermitteln und auf dieser Basis auch die Wahrscheinlichkeiten für alle potentiell möglichen Koalitionen berechnen. Für Brandenburg, das Saarland und Thüringen ergibt sich – gegeben eine Regierungsübernahme durch Union und FDP in Berlin und Kiel – in Tabelle 1 angetragenes Bild.

Tabelle 1: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Koalitionen bei CDU/CSU-FDP-Bundestagsmehrheit

  Brandenburg Saarland Thüringen
CDU und SPD 49,4% 32,1% 50,0%
SPD und Linke 47,4% 0,1% 38,6%
SPD-Minderheits-
regierung
0,7% 0,1% 0,2%
CDU-Minderheits-
regierung
0,1% 4,4% 6,4%
SPD, Grüne und Linke 0,2% 13,7% 0,2%
CDU, FDP und Grüne 0,1% 36,7% 0,6%
CDU/FDP-Minderheits-
regierung
0,0% 11,1% 0,8%

 

Es zeigt sich, dass die Regierungsbildung in den drei Bundesländern alles andere als ausgemacht ist. In Brandenburg ist die Wahrscheinlichkeit, dass die amtierende Koalition aus SPD und CDU im Amt bleibt, nur geringfügig größer als die Bildung eines Bündnisses zwischen SPD und der Linken. Dies überrascht insofern nicht, als dass unter einem schwarz-roten Bündnis Brandenburg ein „C-Land“ würde, während es im Bundesrat zu den „B-Ländern“ zählen würde, wenn sich dort eine rot-rote Koalition bilden würde. In Thüringen ist hingegen die Bildung einer CDU/SPD-Koalition deutlich wahrscheinlicher als alle anderen Varianten. Die angestrebte rot-rot-grüne Koalition ist aus Sicht der Koalitionstheorien auch deswegen so extrem unwahrscheinlich, weil es sich um eine übergroße Koalition handeln würde: die Grünen werden zur Erringung einer Mehrheit im Landtag nicht benötigt. Ein Bündnis zwischen Linken und SPD rangiert mit einer Wahrscheinlichkeit von knapp 39% recht deutlich hinter der Koalitionsoption aus CDU und Sozialdemokraten.

Das Saarland stellt den unübersichtlichsten Fall dar. Aufgrund der Schätzungen ergibt sich eine Jamaika-Koalition aus CDU, FDP und Grünen als wahrscheinlichste Variante (36,7%). Die Chancen zur Bildung einer – bislang nicht in Saarbrücken diskutierten – großen Koalition aus Union und SPD sind jedoch nur leicht niedriger (32,1%). Deutlich geringer fällt hingegen die ermittelte Wahrscheinlichkeit für die Bildung der ersten rot-rot-grünen Koalition in einem westdeutschen Bundesland aus: sie liegt bei knapp 14%. Man darf also nach wie vor gespannt sein, für welche farblichen Konstellationen sich die Parteien in den drei Ländern entscheiden.