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Zu wenig Fakten, zu viel Propaganda

 

"Der Terror ist zurück": Die Anschläge in Boston dominieren die Schlagzeilen. © Emmanuel Dunand/AFP/Getty Images
„Der Terror ist zurück“: Die Anschläge in Boston dominieren die Schlagzeilen. © Emmanuel Dunand/AFP/Getty Images

Von der kürzlich verstorbenen Margaret Thatcher stammt die Erkenntnis, dass Öffentlichkeit der Sauerstoff ist, den der Terrorismus zum Atmen braucht. Dem ist wenig hinzuzufügen – aber im Lichte einiger erster Reaktionen auf die Bombenanschläge beim Bostoner Marathon am Montag drängt sich eine Verfeinerung auf: Für radikale Propagandisten haben Terrorakte offensichtlich eine ähnlich vitalisierende Wirkung wie Sauerstoff.

Nur Minuten, nachdem der Anschlag in Boston bekannt wurde, wussten zwei Sorten Radikaler jedenfalls, wer dahinter stecken musste. Über Twitter, Facebook und diverse Internetforen ließen sie die Welt an ihren Erkenntnissen teilhaben, die sie freilich so einbetteten, wie es ihren Zielen nutzte. Die Rede ist hier von Cyber-Dschihadisten einerseits – und extremen Islamhassern andererseits.

Synergien von Islamhasser und Islamisten

„Mehr gute Nachrichten!“, verkündete ein Anhänger des Terrornetzwerks Al-Kaida zum Beispiel auf einer der wichtigsten arabischsprachigen Webseiten, auf denen sich Dschihadisten aus der ganzen Welt austauschen. „Hoffentlich sehen wir bald Anschläge wie diese in allen amerikanischen Städten“, sekundierte ein zweiter User. Weitere Diskutanten gratulierten schon den „Gotteskriegern“, die sie hinter der Tat vermuteten, als ein etwas besonnenerer Forumsbesucher zu bedenken gab, er glaube eigentlich nicht, dass Al-Kaida dahinter steckt: „Al-Kaida schlägt organisierter zu und gezielter.“ Aber ein vierter Teilnehmer der Diskussion beschied ihm, er müsse das anders sehen: „Der Schrecken, den Millionen von TV-Zuschauern erlitten haben, reicht doch, egal, wie viele nun gestorben sein mögen!“

Die Speerspitze der in den USA erheblich schlagkräftiger als hier organisierten islamophoben Szene hatte ebenfalls wenig Zweifel an den Urhebern. Pamela Geller, eine besonders umtriebige Aktivistin in diesem Spektrum, sprach auf Twitter wahlweise vom „Boston Jihad“, „Jihad in Boston“ oder dem „Boston Marathon Jihad Bombing“. Geller und ihre Gesinnungsgenossen suchten, fanden und verbreiteten in der Folge Jubelbekundungen von militanten Islamisten wie diejenigen, die ich im Absatz zuvor beschrieben habe. Quasi als Beleg. Sind das nur kommunizierende Gefäße – oder schon Synergien?

Dem von Geller & Co vorgegebenen Befund, es müsse sich wohl um islamistische Täter handeln (beziehungsweise irgendwelche Muslime – man braucht keinem der beiden Lagern hier mehr Redlichkeit oder Differenzierungsneigung unterstellen als nötig), folgten die Anhänger dieser islamophoben Ideologen wiederum mit denkbar eindeutigen (und simplizistischen) Forderungen, Wünschen und Verwünschungen: Alle Muslime ausweisen, so was kommt eben davon, wenn man einen Muslimbruder wie Obama zum Präsidenten wählt etc. (Eine Zusammenstellung übelster rassistischer Beschimpfungen, die über Twitter liefen, findet sich hier.)

Sarkasmus hier, Zynismus dort

Ein Kommentator des Fernsehsenders Fox ließ sich in einem Twitter-Dialog sogar dazu hinreißen, zu schreiben, Muslime seien eben böse: „Let’s kill them all.“ Anschließend ließ er freilich wissen, das sei „Sarkasmus“ gewesen.

In Sachen Zynismus (was es wohl eher trifft als Sarkasmus) braucht sich allerdings auch die dschihadistische Seite nicht zu verstecken. Die pakistanischen Extremisten von der Organisation TTP richteten etwa aus, sie würden zwar durchaus Amerikaner attackieren, wo sie nur könnten, aber mit den Bostoner Anschlägen hätten sie nichts zu tun. Und die somalischen Schabaab-Milizen, mit Al-Kaida verbündet, twitterten, dass die Bomben in den USA nur „einem winzigen Teil dessen gleichkommen, was US-Soldaten tagtäglich Millionen unschuldiger Muslime auf der ganzen Welt antun“.

Nun kann man natürlich fragen: Was sonst soll man denn von Radikalen erwarten? Aber ich finde es schon erstaunlich, wenn man auf der Grundlage ideologisch motivierter Pseudo-Gewissheiten Propaganda betreibt – schließlich ist bis jetzt, gut 36 Stunden nach den Anschlägen, überhaupt nicht klar, wer für das Blutbad verantwortlich ist.

Auch zu diesem Thema will ich an dieser Stelle noch kurz etwas sagen. Wenn man so will: eine kleine Mahnung zur Vorsicht.

Bombenanleitung in Inspire

Nur ein Beispiel: Am Dienstagabend wurde bekannt, dass mindestens einer der Sprengsätze, vermutlich aber beide, in einem Schnellkochtopf untergebracht waren, der wiederum in einer Sporttasche steckte. Jeder, der Al-Kaidas Propaganda in den vergangenen Jahren ernsthaft verfolgt hat, weiß natürlich, dass es in der ersten Ausgabe des englischsprachigen Onlinemagazins der Kaida-Filiale auf der Arabischen Halbinsel, Inspire, eine bebilderte Bombenbauanleitung gab, in der dazu geraten wird, den Sprengsatz genau auf diese Art zu fabrizieren:

„The explosion that results from this device is a mechanical one. It results from the pressure caused by the gases and therefore it only works if contained in a high pressure environment. So you may use iron pipes, pressure cookers, fire extinguishers, or empty propane canisters…“

Es wird dort auch empfohlen, Schrapnelle im Inneren anzubringen, so wie es in Boston offenbar auch getan wurde.

Ebenfalls in Inspire, in einer anderen Ausgabe, gab es den Nachdruck eines (schon damals quasi historischen) Aufsatzes des Terror-Strategen Abu Musab al-Suri, in dem es an einer Stelle heißt:

„The type of attack, which repels states and topples governments, is mass slaughter of the population. This is done by targeting human crowds in order to inflict maximum human losses. This is very easy since there are numerous such targets such as crowded sports arenas, annual social events, large international exhibitions, crowded market-places, sky-scrapers, crowded buildings.“

Kein spezifischer Täterkreis

Es spricht natürlich nichts dagegen, auf diese Fundstellen aufmerksam zu machen – nur: Ableiten kann man daraus wenig. Schnellkochtöpfe als Ummantelung von Sprengsätzen sind eine Maßgabe, die sich ebenfalls in viel älteren, originär westlichen Anleitungen findet. (So wie Al-Kaida & Co überhaupt immer mal wieder Material der US-Armee oder aus dem Anarchist’s Cookbook übernehmen.) Und Sportveranstaltungen als Terrorziel? Hat Al-Kaida im Westen bisher noch nicht attackiert. Wohl aber der Antisozialist und Rechtsextremist Eric Robert Rudolph, nämlich bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta. Damals gab es zwei Tote und über 100 Verletzte.

Und was bedeutet das alles? Ganz einfach: Der Anschlag von Boston lässt sich aufgrund der bisher bekannten Informationen nicht einmal tendenziell sinnvoll einem spezifischen Täterkreis zuordnen. Oder anders gesagt: Je weniger Zweifel irgendein „Experte“ im Moment hat, desto weniger sollte man ihm vertrauen.