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Mich interessieren die Attentäter!

 

Ich mag es, wenn ich gezwungen werde, meine Gedanken zu schärfen – und mit seinem aktuellen Text auf seinem Blog tut mein Kollege Jörg Lau genau das. Es geht um den Anschlag von Boston und die mutmaßlichen Attentäter, die Brüder Tamerlan und Dschochar Zarnajew. Aber eigentlich geht es um alle Anschläge und alle Attentäter, denn Jörg Lau schreibt: „Ich (habe) es… satt, mich mit solchen Typen weiter zu beschäftigen.“ Und: „Mir reicht’s. Ich weiß genug – mehr als ich je wissen wollte – über die Attas, die Merahs, die Al-Awlakis, und jetzt eben über die Zarnajews. Ich muss sagen, es kommt nichts menschlich Interessantes dabei heraus.“

Hat Jörg Lau Recht? Beschäftigen wir uns zu intensiv und ohne echte Erkenntnisse mit diesen Lebensläufen? Suchen wir nach Erklärungen, wo es nur Anekdoten gibt – dazu noch stets dieselben oder jedenfalls vergleichbare? „Immer wieder beugen wir uns über ihre Familiengeschichten, ihre Identitätsprobleme, ihre Zerrissenheit, ihre verbrecherischen Mentoren und ihren kaputten Glauben, um zu verstehen, ach zu verstehen, warum, warum nur, sie tun was sie tun“, klagt der Kollege.

In Wahrheit geht es hier natürlich nicht ums Rechthaben. Jede und Jeder darf das alles satt haben. Niemanden muss es interessieren, dass Dschochar als Bademeister gejobbt und Tamerlan einmal seine Freundin geschlagen hat.

Aber mich interessiert es. Ich will alles wissen, was ich über die beiden in Erfahrung bringen kann. Und zwar nicht aus Voyeurismus – ich hege keinerlei Faszination für Attentäter an und für sich; sondern weil ich, anders als offenbar Jörg Lau, manchmal Entwicklungen erkenne, wenn ich diese Lebensläufe studiere.

Selbstverständlich haben islamistisch motivierte Attentäter viel gemeinsam. Geschenkt. Aber genau deshalb sind die Unterschiede ja umso bedeutsamer.

Ein Beispiel: Der deutsche Konvertit und spätere Terrorist Eric Breininger, der im April 2010 von pakistanischen Soldaten erschossen wurde, hinterließ eine Art Autobiografie. Der größte Teil war reine Propaganda. Aber da gab es auch diese Passage: „Ich war erst vier Monate im Islam. Dennoch kannte ich meine Pflicht, ich wollte in den Dschihad…“ Der Fall Breininger machte mit voller Wucht auf ein damals neues Phänomen aufmerksam, dem wir seither immer häufiger begegnet sind: Die mitunter rasend schnelle Radikalisierung späterer Terroristen.

Wie wenn nicht durch die Beschäftigung mit Breininger hätte ich das erkennen können? Dass neben das Altbekannte etwas Neues getreten ist? Breininger war eben gerade nicht wie Mohammed Atta – der sich über Jahre radikalisierte, allmählich und zielstrebig zum Terroristen aufgebaut wurde. (Breininger, das nur am Rande, ist übrigens eines von etlichen Beispielen dafür, dass die Terroristen, über die wir hier reden, keineswegs allesamt „mörderischen Loser von den Rändern der islamischen Welt“ sind, wie Jörg Lau schreibt. Loser? Ja. Aber Breininger kam aus dem Saarland.)

Es gibt andere Beispiele, die jeweils zu ihrer Zeit gezeigt haben: Achtung – der mäandernde Fluss des globalen Dschihadismus entwickelt gerade einen neuen Nebenlauf. Der erste aus Guantanamo entlassene Gefangene, der nach dem Durchlaufen des saudischen Rehabilitationsprogramms im Irak einen Selbstmordanschlag ausübte. Der erste aus Deutschland stammende Dschihadist, der sich einer Terrorgruppe in Waziristan anschloss und dort aufstieg. Der erste Attentäter im Westen, der durch das Al-Kaida-Magazin Inspire inspiriert wurde.

Die Terrorkarriere der Gebrüder Zarnajew könnte in ähnlicher Weise etwas Neues andeuten. Denn der Anschlag von Boston wirft die Frage auf, ob es so etwas wie einen dschihadistischen Amoklauf gibt. Das familiäre Drama hat nach allem, was man bisher vermuten kann, in einem ungewöhnlich hohen Maße zur Motivation beigetragen. Was, wenn hier eine Mischform entsteht?

„Na und?“, könnte man nun entgegnen. „Interessiert mich nicht. Andere Leute haben auch Probleme. Attentäter werden immer irgendwelche Pseudo-Rechtfertigungen finden.“ Das stimmt. Und auch hier antworte ich: Niemanden muss das interessieren.

Nur: Wer mitreden möchte, wenn aus Terror Politik gemacht wird, wenn Innenminister sich äußern und der Verfassungsschutz Konzepte vorstellt, wenn „Islamkritiker“ oder dubiose Imame sich aufpumpen, Bezirksbürgermeister Vorschläge machen und die Polizeigewerkschaft mehr Polizisten fordert, der sollte wissen dass Atta nicht Breininger ist und Breiniger nicht Dschochar Zarnajew. Methoden, die zum rechtzeitigen Aufspüren Mohammed Attas hätten führen können, hätten bei Dschochar Zarnajew vermutlich nicht geholfen. Dafür wäre Dschochar Zarnajew möglicherweise für ein kluges Präventionsprogramm ansprechbar gewesen, Mohammed Atta sicher nicht. Es sind also mitunter relevante Schlussfolgerungen, die man aus scheinbar sehr ähnlichen Attentäter-Profilen destillieren kann.

Ich verstehe trotzdem den Unmut des Kollegen Lau. Ich teile ihn oft sogar – es ist ermüdend, in diese Biografien einzutauchen, traurig, anstrengend, frustrierend. Trotzdem glaube ich, dass es notwendig ist. Nicht um Attentäter verstehen zu lernen. Das halte ich ohnehin für fast unmöglich. Sondern um zu erkennen, wenn neue Typen von Attentätern auftauchen.

„Der Terrorismus der radikalen Verlierer wird weitergehen“, schreibt Jörg Lau. Ich fürchte, dass er Recht hat. „Ich habe das dumpfe Gefühl, die nächsten radikalen Verlierer schon zu kennen, die Tamerlan und Dschochar nacheifern werden“, schließt er seinen Text. Da bin ich mir nicht so sicher.